Das Dornenhaus
Ihr Mann hatte beschlossen, dass sie als Letztes Chopin hören sollte, ehe ihre Synapsen endgültig aufgaben. Chopin war die Musik gewesen, mit der er um sie geworben hatte, und Chopin sollte sie in den Tod begleiten. Das war sein Wunsch.
Mir drängte sich der Gedanke auf, ob Mrs Brecht nicht ein heitereres Stück bevorzugt hätte, doch dann sagte ich mir, dass Mr Brecht es bestimmt am besten wusste.
Mrs Brecht drehte den Kopf ein wenig und sah Ellen an. Ihre Lippen bewegten sich kaum merklich.
»Sie will, dass die Musik ausgestellt wird, Papa«, sagte Ellen.
»Dann leg etwas anderes auf. Debussy. Sie liebt Debussy.«
»Nein, Debussy nicht. Das möchte sie bestimmt nicht.«
»Ich sagte, du sollst Debussy auflegen«, sagte Mr Brecht in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ellen runzelte die Stirn, stand jedoch auf und tat, was er befohlen hatte. Ich beobachtete Mrs Brechts Gesicht und sah, wie sich eine Emotion darauf spiegelte, aber es war nicht Traurigkeit, eher eine Art Zorn. Der Tod schien alle Beteiligten wütend zu machen. Mrs Brecht schloss die Augen wieder. Abermals zog ich den Vorhang ein winziges Stückchen zurück. Mr Tremlett stand noch immer am Tor und starrte finster zum Fenster herauf. Ich fragte mich, wie lange er noch ausharren würde.
Nachdem Mrs Todd die Spuren von Mr Brechts Wutanfall beseitigt hatte, kam sie ins Zimmer und nahm ihren Platz auf dem hochlehnigen Stuhl in der Ecke schräg gegenüber dem Bett ein. Mit geradem Rücken saß sie da und wandte sich im Schein der Stehlampe wieder ihrer Strickarbeit zu. Man hörte das Klicken der Nadeln. Der Wollknäuel lag in einer Tasche neben dem Stuhl. Ich fragte mich, ob sie die ganze Zeit in diesem Zimmer gewesen war, um Krankenwache zu halten. Nein, rief ich mir ins Gedächtnis, nicht die ganze Zeit – bei unserer Ankunft hatte sich Adam Tremlett allein in Mrs Brechts Zimmer aufgehalten.
Eine Stunde, vielleicht ein bisschen mehr, hielten wir uns schweigend in diesem Zimmer auf, während die Klavierklänge uns umflossen, sich auf unserer Haut niederließen, durch unser Haar strichen, flüchtig die trockenen Lippen der Sterbenden berührten und wieder weiterzogen. Allmählich wurde ich müde. Ich setzte mich neben Ellen, und sie legte den Kopf auf meine Schulter. Ich streichelte ihr übers Haar. Irgendwann kam die Schwester, die sich unterdessen ausgeruht hatte, herein. Sie sah alle Anwesenden der Reihe nach an, den Ehemann, der den Kopf neben den seiner sterbenden Frau gelegt hatte, Mrs Todd, die noch immer strickte, und schließlich das dunkle, schlanke Schulmädchen, Arm in Arm mit ihrer stämmigeren blonden Freundin, beide noch in ihren schwarzen Strumpfhosen, Faltenröcken und Pullovern, die wir den Winter über in der Schule trugen. Sie schüttelte den Kopf. »Geht und zieht euch um und esst etwas.« Ihr Blick wanderte zu Mr Brecht. »Ruhen Sie sich eine Weile aus.«
»Nein, ich lasse meine Frau nicht allein«, sagte Mr Brecht. »Jetzt nicht mehr. Keinen Moment weiche ich mehr von ihrer Seite.«
»Sie schläft. Ich bin ja da. Sie müssen sich wappnen und Kraft sammeln. Es wird eine lange Nacht werden.«
»Nein«, sagte Mr Brecht. »Ich bleibe.«
Angesichts der romantischen Tragik dieser Szene brach es mir schier das Herz. Dennoch war ich froh, fortgeschickt zu werden. Ich wollte keine Sekunde länger bleiben. Etwas Unheilvolles lag über dem Zimmer, in dem Mrs Brecht im Sterben lag. Etwas stimmte nicht, und dieses Etwas hatte nicht nur mit dem Tod zu tun.
Ich küsste Ellen zum Abschied, und als ich Thornfield House verließ, um nach Hause zu gehen, stand sie, eine schmale, trauernde Gestalt, in der Haustür, eine Hand am Türrahmen, und winkte mir mit der anderen zu. Adam Tremletts Lieferwagen parkte jetzt vor der Kirche. Inzwischen war das Tageslicht nahezu erloschen, der Winternebel hatte es frühzeitig Abend werden lassen. Es war eine Atmosphäre, in der man sich allzu leicht vorstellen konnte, wie Gespenster durch die Dunkelheit huschten und sich die Geister der Ertrunkenen im Meer zusammenfanden.
Noch Jahre später erinnerte ich mich an jedes Detail jenes Spätnachmittags. Ich erinnerte mich, wie Jago mich mit seiner rauen, jungenhaften Art aufzumuntern und abzulenken versuchte. Aber die Szenerie im Sterbezimmer in Thornfield House ging mir nicht aus dem Kopf. Ich musste unaufhörlich an Ellen denken, ich wünschte, ich wäre bei ihr, und war gleichzeitig erleichtert und froh,
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