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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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und ich unsere Sachen zusammenpackten, unsere Mäntel nahmen und das Klassenzimmer verließen, senkten die anderen Schüler peinlich berührt den Kopf.
    »Bis dann«, sagte Ellen leise, und die anderen erwiderten einen gemurmelten Abschiedsgruß.
    Ellens Vater wartete vor dem Schulgebäude. Seine Zigarettenspitze glühte im Nebel. Er trug einen langen Mantel und einen Schal und hatte die Arme um den Körper geschlungen. Er stand da wie ein Schauspieler in einem Film noir. Die Nebelschwaden und der Zigarettenrauch, die ihn umgaben, verliehen ihm etwas Gespenstisches. Als wir aus der Tür traten, sah er zu uns hoch, und Ellen stürzte sich in seine Arme. Während er sie an sich drückte, hielt ich mich dezent im Hintergrund, ich wollte diesen intimen Moment nicht stören.
    »Du musst jetzt tapfer sein, Schätzchen«, sagte Mr   Brecht. »Es ist wichtig, dass du in den nächsten Stunden stark bist, sonst weiß ich nicht, wie wir es überstehen sollen.« Dann fügte er etwas auf Deutsch hinzu. Ellen nickte, trat zurück und hob entschlossen den Kopf.
    Mr   Brechts Wagen stand am Straßenrand vor dem Schuleingang im absoluten Halteverbot. Ellen setzte sich auf den Beifahrersitz neben ihren Vater. Die Brechts benutzten nie einen Sicherheitsgurt. Ich nahm hinter Ellen Platz und schnallte mich an. Es war ein tiefliegender Sportwagen mit Ledersitzen und einer Hi-Fi-Anlage. Klassische Musik, ein merkwürdiges gewundenes Stück, erfüllte das Innere. Ich kannte es nicht, aber es war eine ans Herz gehende Musik.
    Neben mir auf der Rückbank lag ein halbes Dutzend in Papier eingewickelter roter Nelken. Sie verbreiteten einen süßlichen Geruch, der mir Übelkeit verursachte, und sahen irgendwie traurig, ja, geradezu verzweifelt aus. Aus reiner Verlegenheit ergriff ich den Strauß und legte ihn mir in den Schoß, einfach, um etwas zu tun. Trotz des Nebels fuhr Mr   Brecht schnell, aber ich hatte keine Angst. Ich vertraute ihm blind und wäre überallhin mit ihm gefahren. Ellen saß ruhig vor mir, die Hände im Schoß verschränkt, den Blick starr geradeaus gerichtet.
    »Ist es bald so weit?«, fragte sie ihren Vater, und Mr Brecht nickte und sagte: »Ja.«
    »Hoffentlich passiert es nicht heute«, sagte Ellen. »Mama hat Nebel immer gehasst.« Sie begann leise zu weinen. Das war ungewöhnlich. Die Tränen strömten ihr über die Wangen. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie durch den dicken Mantelstoff hindurch, aber Ellen zeigte keine Reaktion.
    Es war merkwürdig, auf Straßen zu fahren, die ich so gut kannte, ohne etwas zu erkennen. Nur verschwommene Umrisse waren auszumachen, manchmal auch gar nichts, nur dichter grauer Nebel. Von den Hangars, Hubschraubern und Tankfahrzeugen jenseits des Drahtzauns von Culdrose war nichts zu sehen, aber ich wusste, dass die Angestellten dort wie gewohnt ihrer Arbeit nachgingen. Irgendwo hinter diesem Zaun saß auch mein Vater in seinem schmucklosen Büro mit den an der Pinnwand befestigten Aushängen, einer praktischen Schreibtischlampe, einem Metallpapierkorb und einem Telefon, in einem Hemd der Royal Air Force, das ihm zu eng war. Seine Aufgabe war es, die Dienstpläne und den Einsatz der Geräte zu organisieren. Ich stellte mir vor, wie er gerade einzelne Punkte auf dem vor sich ausgebreiteten Plan abhakte, in seiner fröhlichen, manchmal aber auch rechthaberischen Art. Er wusste nicht, dass seine Tochter in diesem Moment im Fond eines tiefliegenden deutschen Sportwagens draußen auf der Straße vorbeifuhr. Er wusste nicht, dass Ellens Mutter in den kommenden Stunden sterben würde.
    An der Ampel gerieten wir in einen Stau, und das Gefühl, in einer unwirklichen Szenerie gefangen zu sein, verstärkte sich noch. All diese Menschen in den anderen Autos gingen ihren Geschäften nach, als wäre es ein ganz normaler Tag und nicht der Tag, an dem Anne Brecht sterben würde. Langsam fuhren wir an einer Unfallstelle vorbei – ein Auto hatte von hinten einen Milchwagen gerammt. Menschen standen herum und hauchten in die gewölbten Hände, schüttelten die Köpfe. Glasscherben lagen in der riesigen Milchlache auf der Straße. Der Fahrer des Milchwagens rannte aufgeregt umher, eine wollene Sturmhaube unter der Schirmmütze. Auf dem Armaturenbrett des Milchwagens blinkte ein kleiner Christbaum mit elektrischer Beleuchtung. Ich fragte mich, was Mrs   Brecht wohl dachte und wie es sich anfühlte, wenn man wusste, dass man nur noch wenige Stunden zu leben hatte. Ob sie sich

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