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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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in dem kleinen Haus.
    »Es ist ein wunderschöner Abend, ich glaube, ich mache einen Spaziergang, Mum«, sagte ich. Sie saß im Wohnzimmer. Der Fernseher lief, war aber auf Stumm geschaltet. An ihrem Gesicht konnte ich erkennen, dass sie gerade eingenickt war.
    »Ach, bleib doch hier und sieh mit mir fern«, sagte sie. »Gleich beginnt eine Geschichtssendung, die dir bestimmt gefallen würde.« Aber ihre Aufforderung klang halbherzig. Ich trat zu ihr und küsste sie auf die Stirn.
    »Wirklich, Mum, frische Luft wird mir guttun. Eigentlich bin ich noch immer ein Landmädchen. Ich vermisse das Meer, weißt du.«
    Mum lächelte. In ihren Augen war Bristol ein furchterregender Ort, ein wahrer Sünden- und Drogenpfuhl und außerordentlich schmutzig. Wann immer ich eine Bemerkung über das Stadtleben fallen ließ, fühlte sie sich in ihrem Vorurteil bestärkt und genoss es sichtlich.
    »Ich werde zurück sein, bevor es dunkel wird«, sagte ich, nahm meine Jacke und ging hinaus.
    Eine Zeit lang folgte ich der kleinen Straße vor unserem Haus, dann kletterte ich über einen Zaunübertritt und überquerte eine Weide. Es war ein warmer Sommerabend, und unzählige Schmetterlinge tummelten sich in der lauen Luft. Während ich durch hüfthohes Gras spazierte, kamen meine Gedanken zur Ruhe, und ich entspannte mich. Kaninchen hoppelten am Wiesenrand entlang, und kleine Vögel schossen pfeilschnell zwischen den Hecken hin und her.
    Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen wanderte ich eine Zeit lang weiter, bis mir plötzlich klar wurde, dass ich auf dem Weg zum Bleached Scarp war.
    Der Weg war weiter, als ich ihn in Erinnerung hatte, und auch anstrengender. Die Bauern hatten die meisten Hinweisschilder auf Fußwege und Zaunübertritte entfernt, um die Urlaubsgäste davon abzuhalten, ihre Wiesen zu zertrampeln. Immer wieder aufs Neue erfreute mich der Anblick der rotbraunen Rinder, die auf den Weiden grasten, der Wildblumen, der Fülle von gelben, weißen und lila Farbtönen, die sich in das wogende Gras mischten, und der uralten Steinhecken, die die Felder und Wiesen begrenzten. Die seit jeher in die Hecken eingelassenen Stufen ermöglichten den Wanderern, diese bequem zu überwinden, im Unterschied zu den Elektrozäunen, mit denen zu ihrem Leidwesen neuerdings die meisten Weiden umgeben waren.
    Schließlich erreichte ich die Kuppe der Anhöhe, die auf der anderen Seite sanft zum Küstenweg hin abfiel und hinter der die schroffen Meeresklippen lagen. Bauschige Wolken mit ihren flachen Unterseiten waren in den ansonsten perfekten aquamarinblauen Himmel getupft, während sich das Meer darunter in einem dunkleren Türkis abhob. Die Wellen hatten weiße Gischtkronen. Plötzlich überkam mich bei dem Anblick, der sich mir bot, ein tiefes Gefühl des Stolzes. Eine Weile stand ich einfach nur da und beschwor die Vergangenheit herauf. Fast konnte ich uns drei sehen, Ellen, Jago und mich, wie wir mit aufgeschürften Knien und schmutzigen Händen, die Taschen voller Kieselsteine und Süßigkeiten, über die Felder liefen. Wie wir den Abhang hinunterkletterten, gelegentlich hinfielen und uns gegenseitig jagten. Wie Ellen und Jago, immer ein Stück voraus, mir zuriefen, ich solle mich beeilen, wo ich denn bliebe, und ich solle nicht ein solcher Angsthase sein.
    Dann schloss ich die Augen und verscheuchte das Bild. Nun war ich wieder allein und längst erwachsen und genoss die Aussicht, die sich mir in diesem Moment bot: einen der besten Ausblicke der Welt, dachte ich stolz, unser Ausblick eben.
    Ich folgte unserem Pfad, überquerte eine weitere Wiese, dann einen Weg und einen Zaun mit einem Schild, auf dem stand: »Achtung, Lebensgefahr, erodierende Steilklippe«, und musste fast lächeln angesichts meines ungewohnten Wagemuts. Früher hatte ich eine solche Angst vor diesem Ort gehabt, aber nun bemerkte ich, dass die Klippenwand gar nicht so hoch war und der Pfad nicht so rutschig wie in meiner Erinnerung. War ich mutiger geworden? Besaß ich als Erwachsene mehr Selbstvertrauen, oder hatte ich mir die Gefahr als Kind einfach nur eingebildet? Ich brauchte einen Augenblick, um das Loch in der Felswand zu entdecken, wo sich der Schacht öffnete, durch den man zum Strand hinuntergelangte. Die Lücke war kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte, aber die tunnelartige Schneise weniger steil und dunkel. Kein Vergleich zu dem schwindelerregenden Abgrund, dessen ich mich zu entsinnen glaubte. Die Stufen waren von Menschenhand gemacht, in den Fels gehauen, um

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