Das Dornenhaus
gekommen war, hatte sie bereits am Klavier gesessen, und jetzt war es vier Uhr nachmittags, und sie spielte noch immer. Sie übte eine besonders schwierige Passage, und ihr Vater saß neben ihr und unterrichtete sie. Aus dem Salon vernahm ich Mr Brechts leise, eindringliche Stimme und Ellens frustrierte, wütende Erwiderungen.
Ihre Verzweiflung spiegelte sich in ihrem Spiel wider. Ich hörte es – jeder hätte es hören können – in der Art, wie sie die kniffligen Akkorde griff; es klang irgendwie verzerrt. Es war auch keine gefällige Melodie, jedenfalls nicht die Art von Stück, bei dem ich Ellen gern zuhörte, und auch nicht die, die ihre Mutter bevorzugt hatte. Keine romantische Mondscheinmusik, keine Liebesmelodie oder Musik, bei der man meinte, das Meeresrauschen zu vernehmen und bei der ich mich an unseren Lieblingsstrand Bleached Scarp träumen und mir vorstellen konnte, ich läge dort und ließe mir die Sonne ins Gesicht scheinen, während der Wind über die Wellen blies. Es war kein Stück von Yann Tiersen oder Elijah Bossenbroek, auch nicht von Mozart, Grieg oder das Klavierkonzert von Saint-Saëns, das Ellen so liebte, sondern etwas Disharmonisches und Kreischendes wie das Geräusch von Schmerz.
Ellens Vater versuchte ganz offensichtlich, seiner Tochter beizubringen, ihre Trauer in Musik zu übersetzen. Doch für Ellen war es die reinste Qual, denn ihre Trauer war beredt genug, sie bedurfte keiner Übersetzung.
Anne Brecht war am Stephanstag auf dem Friedhof der Kirche Our Lady Star of the Sea begraben worden, die sich außerhalb des Dorfes in der Heide befand. Es war ein kalter, trüber Wintertag gewesen. In einer merkwürdig schnörkellosen, tristen Zeremonie wurde der Sarg in das Familiengrab im Schutz der uralten Friedhofseibe hinabgelassen. Nur ein paar wenige Einheimische waren gekommen, meine Familie und ich und natürlich Mrs Todd und Adam Tremlett. Letzterer hatte nicht an der Messe in der Kirche teilgenommen, verfolgte hinterher aber die Beisetzung aus einiger Entfernung vom Friedhofsrand aus. Der Großteil der Trauergemeinde waren Deutsche, Verwandte von Mr Brecht, die zur Beerdigung seiner Frau aus Deutschland angereist waren. Daneben waren ein paar ehemalige Kollegen von Mrs Brecht aus der Welt der klassischen Musik gekommen, die auch Ellen noch nie gesehen hatte; Männer in langen Mänteln und Frauen mit schmaler Taille, hochhackigen Schuhen und mit eleganten, kostbaren Traueraccessoires ausgestattet. Ich hörte, wie sie einander flüsternd erzählten, sie kämen aus London, Deutschland, ja, sogar aus Russland. Hinterher hatten sie, wie man hörte, bis in die frühen Morgenstunden in der Bar des Seagull Hotels zusammengesessen, Wodka getrunken und sich angeregt unterhalten. Ellen trug ein einfaches schwarzes Kleid von ihrer Mutter, einen schwarzen Mantel und schwarze Strumpfhosen. Im Schrank ihrer Mutter hatte sie außerdem einen schwarzen Spitzenschal gefunden, den sie sich als Schleier über den Kopf drapiert hatte, damit man ihre Tränen nicht sah. Ihr Vater war von Kopf bis Fuß in Schwarz. Sein seit Wochen ungeschnittenes Haar hing ihm, feucht vom Nieselregen, über die Schultern. Die Tatsache, dass er dünner und hagerer geworden war, ließ ihn zusammen mit dem langen Haar und dem dunklen Bartschatten jünger wirken; viel zu jung für einen Witwer. Er und Ellen standen Seite an Seite, tief unglücklich, aber auch seltsam würdevoll.
Da ich nichts Schwarzes besaß, hatte ich wohl oder übel meine Schuluniform anziehen müssen, die einzigen formellen Kleidungsstücke in meinem Schrank. Meine Eltern hatten mich in ihre Mitte genommen, und ich kam mir beim Anblick von Mr Brecht und Ellen wie ein kleines Kind vor. Als es daranging, Erde auf den Sarg zu streuen, wandte sich Mr Brecht kopfschüttelnd ab. Raschen Schritts entfernte er sich vom Grab und verschwand hinter der Kirche. Ellen folgte ihm. Ich fragte mich, ob ich nach ihr schauen sollte, aber meine Mutter sah mich an und bedeutete mir, es nicht zu tun. Kurz darauf hörte ich ein Wehklagen aus Richtung der Kirche. Ich wusste, es kam von Mr Brecht, der von seiner Trauer überwältigt worden war.
Jago stand neben meinem Vater. Nachdem die Grabreden zu Ende waren, bekreuzigte er sich und ging davon. Ich sah, wie er vor einem anderen Grab niederkniete, bemerkte dann aber, dass es im Grunde nichts weiter als ein grasbewachsener Fleck an der hinteren Friedhofsmauer war. Mum erklärte mir, dass dort die Asche der
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