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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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Verstorbenen verstreut werde, deren Angehörige sich kein richtiges Grab leisten konnten.
    »Willst du damit sagen, dass Jagos Mutter dort beerdigt wurde?«, fragte ich im Flüsterton.
    »Ja, das nehme ich an.« Mum sah zu Vater. »Wir haben nie daran gedacht, ihn zu fragen, nicht wahr, Malcolm?«
    Dad schüttelte den Kopf. »Er wird schon damit fertig. Macht euch keine Sorgen um den Jungen. Sie ist noch immer in seinem Herzen, darauf kommt es an. Nicht auf ein Stück Rasen mit Blumen darauf.«
    Nun, einen Monat später, herrschte in Thornfield House noch immer tiefe Trauer. Mr   Brecht wanderte durchs Haus und verbot jedem, etwas zu berühren, was Anne gehört hatte. Er bestand darauf, dass alles blieb, wie es war, als glaubte er, sie würde eines Tages zurückkehren. Das Zimmer, in dem sie gestorben war, war verschlossen, und er verwahrte den Schlüssel. Er ließ es nicht einmal zu, dass Mrs   Todd es von Zeit zu Zeit lüftete. Nur er selbst betrat es und blieb dann stundenlang dort. Da es neben Ellens Zimmer lag, hörte sie nachts manchmal durch die Wand, wie er auf und ab ging und Aufnahmen von Konzerten ihrer Mutter abspielte. Noch immer lag das Kaschmirplaid, mit dem sich Mrs   Brecht zugedeckt hatte, ordentlich gefaltet am Kopfende der Chaiselongue im Salon, und die Wärmflasche, die die Schmerzen in ihren Füßen gelindert hatte, lag noch immer am Fußende. In dem hinteren Zimmer, wo ich auf Ellen wartete, standen noch immer die Bücher ihrer Mutter im Regal. Es waren neue Bücher, die meisten davon ungelesen, denn in den letzten Monaten waren die Gelenke ihrer Finger so entzündet gewesen, dass sie nicht einmal mehr umblättern konnte. Manchmal hatte sie Ellen gebeten, ihr vorzulesen, anstatt immer nur Musik zu hören. Ihre Sonnenbrille lag auf dem Kaminsims und ihr Gehstock quer über den Armlehnen des Rollstuhls, der neben dem Terrassenfenster stand, und der bebänderte Strohhut, den sie im Sommer im Garten getragen hatte, baumelte am Stockgriff. Das Paar Sandalen vor der Schwelle des Terrassenfensters schien nur darauf zu warten, dass Anne zurückkehrte und mit ihren schmalen, deformierten Füßen hineinschlüpfte. Und ihre wunderschönen Ringe lagen in einer kleinen, dekorativen Glasschüssel auf dem Kaminsims.
    Jegliches Licht und Leben schien aus dem Haus hinausgesickert zu sein, als wäre es durch die Türritzen und Schlüssellöcher entwichen. Das Haus, das einst so luftig und elegant und voller Leben gewesen war, wirkte mit einem Mal öde und unheilvoll wie eine dunkle Höhle.
    Ellen litt unter Albträumen. Sie erzählte mir, immer wieder träume sie, dass sich in den Schatten etwas verberge, nicht ihre Mutter mit ihrer durchscheinenden Aura, sondern etwas Großes und Bedrohliches. Sie spüre genau, dass das, was sie beobachte und bedrohe, nur auf einen Auslöser warte, einen falschen Schritt von ihr, um sie zu töten. Nur dass sie nicht wusste, was dieser Auslöser war. Sie war überzeugt, dass Träume eine Bedeutung hatten. Sie sagte, sie wisse, dass dieses Etwas über sie kommen und sie töten würde, nur nicht, wann, noch wo oder wie. Wenn sie danach wach in ihrem Bett lag, fragte sie sich, ob sie vielleicht dafür sorgen solle, dass das Unheil seinen Lauf nahm, so wie die Lady von Shalott in der Ballade von Alfred Tennyson. Ich fand ihre Worte äußerst verstörend. Die Schatten ihrer Albträume begannen, sich auch meiner Träume zu bemächtigen. Wenn ich wach war, machte ich mir Sorgen – nicht um mich, sondern um Ellen.
    Während ich nun allein in dem hinteren Zimmer saß, wo sich Anne Brecht so oft aufgehalten hatte, und auf Ellen wartete, fühlte ich mich unbehaglich. Die schöne deutsche Kaminuhr tickte laut, und der Regen prasselte ans Fenster; die disharmonische Klaviermusik hörte sich an wie der Soundtrack eines Horrorfilms. Ich wusste nicht, wer mir mehr leidtat, Ellen oder ihr Vater. Wie sollte Ellen gut Klavier spielen können, da sie doch so durcheinander war? Aber konnte sie sich andererseits nicht wenigstens ein bisschen konzentrieren, mehr verlangte ihr Vater doch gar nicht!
    Ich blickte auf die Zeitung in meinem Schoß. Mrs   Todd hatte sie mir gegeben; sie hatte sie auf einer bestimmten Seite aufgeschlagen und glattgestrichen und mir den Artikel gezeigt, den ich unbedingt lesen sollte.
    Es war ein Nachruf. Der Autor war ganz offensichtlich ein großer Bewunderer von Anne Brecht gewesen. Ausführlich beschrieb er ihr außergewöhnliches Talent und wie sie mit ihrer Jugend

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