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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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und ihrer Schönheit und Brillanz zu einer der berühmtesten und beliebtesten Pianistinnen aller Zeiten geworden war. Die abgebildeten Fotos zeigten Anne bei Proben und Konzerten und bei verschiedenen privaten Gelegenheiten während ihrer gefeierten Aufenthalte in New York und Rom. Während sie in hellem Sonnenlicht posierte, sah sie wunderschön und rundum zufrieden aus, als sei sie der glücklichste Mensch auf Erden.
    Als ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, legte ich die Zeitung zur Seite und ging zum Fenster. Ich beobachtete, wie die Regentropfen die Scheibe hinabrollten. Draußen im Garten wurde es allmählich dunkel. Ich konnte nur noch bis zum Teich blicken.
    Ich ging zum Bücherregal und zog ein altes Exemplar der Zeitschrift The Tatler heraus, das zwischen ein Buch und die marmorne Bücherstütze geklemmt war. Damit setzte ich mich erneut in meinen Sessel und blätterte durch die Seiten. »Die Debütantin des Monats« hatte mein Interesse geweckt, eine gertenschlanke Blondine, die ein obligatorisches Twinset mit Perlenkette trug. Ich war mir nicht ganz sicher, was eine Debütantin war – wahrscheinlich in vornehmen Kreisen das Pendant zum »Mädchen von Seite drei«. Mit dem Daumen blätterte ich rasch durch die Seiten, bis sich die Zeitschrift wie von allein bei einem doppelseitigen bebilderten Artikel öffnete – anscheinend war er schon unzählige Male gelesen worden. Das Foto, das sich fast über die ganze linke Seite erstreckte, zeigte eine Frau mit einem Baby im Arm. Es war Anne, Mrs   Brecht, aber jünger, als ich sie gekannt hatte, also musste das Baby Ellen sein. Anne trug ein weißes Kleid mit V-Ausschnitt und saß in einem antiken Sessel mit hoher, gerader Lehne neben einem großen Fenster. Das Fenster wurde von einem zurückgebundenen schweren Brokatvorhang eingerahmt und blickte auf eine herrschaftliche Terrasse und einen Park. Laut Bildunterschrift war das Foto auf Schloss Marienburg aufgenommen worden, »dem herrlichen Landsitz von Annes Schwiegermutter, der Gräfin Friederike von Schönheide, das in einer wunderschönen Flusslandschaft in der Nähe von Magdeburg liegt, mit Blick auf die Elbe«. Ellen hatte mir oft von dem Schloss erzählt, wo sie angeblich gewohnt hatten, und davon, dass die Großeltern ihres Vaters entfernt mit dem ehemaligen deutschen Kaiserhaus verwandt gewesen seien. Ich hatte ihr nie geglaubt. Jetzt aber begriff ich, dass zumindest ein Teil dessen, was sie mir erzählt hatte, der Wahrheit entsprach.
    Nachdem ich die Bildunterschrift gelesen hatte, besah ich mir das Foto nochmals eingehender, und erst da bemerkte ich Mr   Brecht, den man durch das Fenster auf der Terrasse stehen sah. In seiner Freizeithose und dem am Kragen offenen Hemd sah er atemberaubend gut aus. Wie er da mit nachlässiger Pose und mit einer Zigarette zwischen den Fingern an dem Sockel eines steinernen Hirschen lehnte, wirkte er sogar ein wenig verrucht.
    Ich seufzte und begann, den Artikel zu lesen.
    Er begann mit einem kurzen Überblick über Annes musikalische Erfolge. Ihren letzten öffentlichen Auftritt hatte sie acht Wochen vor Ellens Geburt in Sankt Petersburg. Anne war zu dieser Zeit erst einundzwanzig gewesen, aber in dem Artikel wurden einige zuverlässige Quellen zitiert, die eines der vielversprechendsten Talente in ihr sahen. Ihre Interpretation von Fritz Kreislers Liebesleid suche ihresgleichen und so weiter. »Und«, fuhr der Verfasser des Artikels in seiner Lobeshymne fort, »die Geburt von Ellen Louisa macht das Glück von Anne und ihrem charmanten Mann Peter perfekt, der seit ihrem zwölften Lebensjahr ihr Musiklehrer und Mentor ist.«
    In diesem Moment wurde im Flur eine Tür zugeschlagen, und ich brach die Lektüre ab. Ich hörte, wie Ellen die Treppe hinauflief. Mr   Brecht betrat das Zimmer, in dem ich saß, gefolgt von Mrs   Todd. Sie schenkte Whisky in ein Glas und reichte es ihm. Er nahm es und trank. Offensichtlich hatten sie mich noch gar nicht bemerkt.
    »Wie ging es heute?«, fragte Mrs   Todd.
    »Hoffnungslos«, erwiderte Mr   Brecht. »Sie hat absichtlich das Stück sabotiert. Sie hört einfach nicht auf mich, tut nicht, was ich ihr sage, sie versucht es nicht einmal. Ich weiß nicht, was ich noch mit ihr anfangen soll, Mrs   Todd. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«
    Er stützte sich mit den Händen auf die Rückenlehne des Sessels, in dem Mrs   Brecht oft gesessen hatte, und ließ den Kopf sinken.
    Ich räusperte mich. Mr   Brecht richtete sich auf und

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