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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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ihre Neigung zum Sabbern und ihre blutunterlaufenen, vertrauensseligen Augen, wurde ich von tiefer Liebe überwältigt. Ich vermisste sie ganz einfach. Um Ellen zu trauern, fiel mir hingegen viel schwerer. Als mich der Brief mit der Nachricht von Ellens Tod erreichte, weinte ich nicht. Und ich weinte auch nicht, als ich einige Jahre später nach Trethene zurückkehrte. Ich hatte versucht, nicht an Ellen zu denken, erst recht nicht an ihren Tod. Aber als ich mich in der Klinik von meinem Nervenzusammenbruch erholte, sagten mir die Ärzte, ich solle mir meine Gefühle gegenüber Ellen eingestehen und sie endlich zulassen. Aus den Mündern dieser Psychologen mit ihren sanften Stimmen und ihrem bedeutungsvollen Schweigen hörte es sich so einfach an. Sie mussten ja nur sagen: »Wie geht es Ihnen heute?« und »Erzählen Sie mir, was Sie denken.« Julia hatte mich aufgefordert, mein tiefstes Inneres zu durchforsten und meine dunkelsten Erinnerungen ans Licht zu holen. Jene, die sich so tief in mein Unterbewusstes eingegraben hatten, dass ich fürchtete, sie mitsamt den Wurzeln auszureißen. »Graben Sie sie aus«, sagte sie, als handelte es sich um Kartoffeln. »Sehen Sie sie gut an, und gehen Sie dann einfach weiter!« Ich hatte ihren Rat nie befolgt. Ich fürchtete, wenn ich diese Erinnerungen hervorzerrte und sie allzu gründlich betrachtete, würde ich mein gegenwärtiges Leben mit dem Gift der Vergangenheit infizieren.
    Mum hatte einen Krug mit frischen Gartenlilien auf den Fenstersims gestellt. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kniete ich mich aufs Bett und blickte nach draußen. Um die Vase herum hatte sich auf dem Sims ein Kreis aus gelben Pollen gebildet. Der Garten des Hauses, das früher den Cardells gehört hatte, war jetzt ordentlich und gepflegt. Der Betonboden war entfernt worden, ebenso der alte Kaninchenstall und die Wäscheleine. Stattdessen gab es jetzt eine schmale, längliche Rasenfläche, einen Kräutergarten und mehrere Vogelfutterstellen. Auf der Terrasse standen Klappstühle. Ein hübscher Platz, der zum Verweilen in der Sonne einlud.
    Es stimmte schon, dass sich im Laufe der Zeit vieles zum Besseren wandte. Manchmal wurden schlechte Nachbarn durch gute ersetzt, Chaos durch Harmonie. Aber manchmal war eben auch das Gegenteil der Fall.
    Ich stand auf, nahm Handtuch und Kulturbeutel und trat auf den Flur hinaus. Das Badezimmer war winzig und beengt; die Toilettenspülung wurde noch immer mit einer altmodischen Kette betrieben, an der man ziehen musste, und auch die weißen Fliesen und die alte Emailbadewanne mit dem klobigen Wasserhahn hatte es schon in meiner Kindheit gegeben. Im Sommer war der Raum schlecht belüftet und im Winter eiskalt. Ich hatte schon viele Male meine Eltern zu überreden versucht, das Bad erneuern zu lassen, ihnen sogar angeboten, die Renovierung zu veranlassen und die Kosten zu übernehmen. Aber sie weigerten sich beharrlich. Sie sahen keine Notwendigkeit. Warum etwas reparieren, was gar nicht kaputt ist?, sagten sie. Sie mochten das Bad, wie es war.
    Als ich in der Badewanne lag, erinnerte ich mich an den Tag, als ich den Brief von meiner Mutter erhalten hatte, in dem sie mir mitteilte, dass Ellen gestorben war. Es war ein strahlender Tag gewesen mit einem blau-weißen Bilderbuchhimmel, wie er typisch für Chile war. Draußen grasten rassige Pferde mit langen Mähnen. Hin und wieder war ein Schnauben oder Hufstampfen zu hören, das eine rote Sandwolke aufsteigen ließ, dazwischen die Rufe der Gauchos oder das Brüllen eines Jungbullen. Eine der japanischen Studentinnen aus unserer Gruppe war mit dem Pick-up in die Stadt gefahren, um Lebensmittel zu besorgen. Zusammen mit den Tüten voller Reis, Zucker, Haferflocken, Fleischkonserven und Gemüse hatte sie auch einen Stapel Post mitgebracht und verteilt. Für mich war nur dieser eine Brief dabei – aus England traf ohnehin nur selten Post ein. Der Brief war mehr als sechs Monate zuvor in Cornwall aufgegeben worden, hatte eine Ewigkeit gebraucht, um mich zu erreichen. Als ich die Handschrift meiner Mutter erkannte, zog ich mich mit dem Brief in die Baracke zurück, in der wir schliefen, um ihn in Ruhe zu lesen. Ich setzte mich auf das oberste Stockbett, riss mit dem Daumen den Umschlag auf und nahm den Brief heraus. Es war nur ein Blatt, eines von dem blauen Briefpapier, das ich meiner Mutter vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
    »Liebste Hannah,
    ich habe furchtbare Nachrichten für dich«, begann meine Mutter

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