Das Dornenhaus
ohne lange Vorrede. »Ellen Brecht ist gestorben. Sie ist jetzt bei ihrer Mutter im Himmel. Es war ein Unfall, sie ist ertrunken, und möge Gott geben, dass sie nicht leiden musste. Ihr Vater ist nach Deutschland zurückgekehrt, und das Haus steht jetzt leer. Du wirst bestimmt sehr traurig sein, und ich bedaure, nicht bei dir sein zu können, um dich zu trösten, mein liebes Kind. Aber ich hoffe inständig, dass deine guten Freunde, die du in Südamerika gefunden hast, dir in dieser schweren Zeit beistehen werden.«
Ich erinnerte mich an jedes ihrer Worte und sah noch immer die altmodische Handschrift vor mir, die sich in großen Bögen über die Seite zog. Obwohl der Brief zu dem Zeitpunkt, da ich ihn erhalten hatte, keine allzu große Bedeutung für mich zu haben schien, hatte er sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt. Lag es daran, dass ich so weit weg von zu Hause gewesen war, auf der anderen Seite der Welt? Oder war ich ganz einfach nicht in der Lage, mich dem Inhalt des Briefes mit allen Konsequenzen zu stellen? Ich hatte ihn wieder zusammengefaltet, in das Kuvert zurückgesteckt und ihn in die Tasche meiner Shorts geschoben, um ihn später an einem schattigen Platz erneut zu lesen, mir Fragen zu stellen und ihn zu begreifen zu versuchen. Aber im Laufe des Vormittags musste mir der Brief herausgerutscht sein, jedenfalls hatte ich ihn verloren. Das machte es für mich einfacher. Ich sagte zu niemandem etwas. Ich erzählte niemandem davon, nicht einmal Rick. Ich tat ganz einfach so, als wüsste ich nicht, dass Ellen tot war. Ich gestattete mir nicht, über ihren Tod nachzudenken, darüber, warum und wie sie gestorben war.
Ich verbannte Ellen und ihr Schicksal aus meinen Gedanken.
SECHSUNDZWANZIG
D er Frühling kam und mit ihm die Narzissen, die Anne Brecht so geliebt hatte. Im April hätte sie Geburtstag gehabt. In diesem Jahr war es ein besonders milder, schöner Monat. Die Wildblumen wuchsen in verschwenderischer Pracht, und die Bäume im Garten von Thornfield House erblühten in strahlendem Weiß und Rosa. Aber anstatt die Schönheit der Natur zu genießen, mied Mr Brecht sie. Ellen erzählte mir, er habe sich an Annes Geburtstag zu Hause eingeschlossen, in dem Zimmer, wo sie gestorben war, und Musik gehört. Als Ellen und ich ein paar Tage später nach oben gingen, stand er vor Annes Zimmer im Flur, mit ihren Bettlaken in den Händen, und vergrub das Gesicht darin. Er achtete nicht mehr auf sein Äußeres. Er war abgemagert und sah krank aus. Mrs Todd gab sich alle Mühe, aber Mr Brecht war entschlossen zu leiden. Sein Anblick brach mir das Herz. Sein selbst gewähltes Martyrium ließ ihn in meinen Augen noch großartiger erscheinen. Ich konnte mir keine größere Liebe vorstellen als die von Mr Brecht zu seiner Frau.
Eines Nachmittags saßen Ellen und ich auf der Bank hinter der Kirche und genossen die Frühlingssonne und die Aussicht auf die Felder. Ellen erzählte mir, ihr Vater habe versucht, Annes Geist zu rufen.
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Er wollte Verbindung zu ihrem Geist aufnehmen. Ich musste mit ihm in das Zimmer neben meinem kommen und ihm dabei helfen. Er hatte ein Ouija-Brett mitgebracht.«
Ellen sprach in sachlichem Ton, nicht mit der dramatischen Stimme, mit der sie sonst immer ihre Geschichten zum Besten gab. Ich sah sie von der Seite an, um herauszufinden, ob sie sich mal wieder etwas ausgedacht hatte, aber sie wirkte völlig ernst.
»Und, habt ihr das Ouija-Brett benutzt?«
»Ich wollte es nicht, aber er hat mich dazu gezwungen.«
»Ellen, diese Dinge sind wirklich gefährlich! Ihr hättet den Teufel anlocken können oder etwas in der Art!«
»Ich weiß. Aber Papa hat darauf bestanden.«
Immerzu erzählte sie solche Geschichten über ihren Vater. Normalerweise maß ich ihnen keine Bedeutung bei, aber diesmal war es anders. Da es nur wenige Tage her war, dass ich Mr Brecht mit den Bettlaken gesehen hatte, erschien mir die Sache mit der Geisterbeschwörung gar nicht abwegig.
Ellen zupfte an ihrem Rocksaum. »Er hat gesagt, was ist, wenn Mama an einem kalten, dunklen Ort gefangen ist, umgeben von gequälten Seelen, die ruhelos durchs Fegefeuer wandern, und versucht, wieder zu uns zurückzukommen? Was, wenn ihr schrecklich kalt und sie zutiefst einsam ist und der Wind um sie herumheult und die Seelen wehklagen … Ich wollte das Ouija nicht anfassen, aber dann dachte ich, ich kann sie doch nicht allein an diesem dunklen, einsamen Ort lassen.«
»Was
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