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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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herunter, setzte mich darauf und klemmte die Hände zwischen die Knie. Ellen zog sich aus und ließ ihre Sachen achtlos zu Boden fallen. Ich nahm den warmen Duft ihrer Haut und den leichten Schweißgeruch wahr, der ihren Achselhöhlen entströmte. Halb schluchzend fuhr sie mit ihrer Schimpftirade fort.
    »Was ist genau passiert?«, fragte ich.
    »Ich habe ihm ein paar Sachen an den Kopf geworfen.«
    »Hast du ihn beschimpft?«
    Ellen zuckte mit den Schultern. Ich seufzte. Warum musste sie ihren Vater immer wieder wütend machen?
    »Er ist selbst schuld!«, sagte sie. »Ich musste ihn ja irgendwie zum Schweigen bringen, sonst hätte ich ihn nicht so angegangen! Aber davor hat er ein paar furchtbare Dinge gesagt!«
    »Was denn?«
    »Er hat gesagt, Mama habe uns nicht geliebt, dass sie eine Lügnerin war, dass sie ihn bis zum Schluss mit anderen Männern betrogen hat. Er hat gesagt …« – Ellen hielt inne und sah mich an –, »dass sie eine Hure war.«
    »Warum sollte er denn so etwas sagen?«
    »Ich glaube, er ist verrückt. Weißt du, Hannah, manchmal, wenn ich Klavier spiele, nennt er mich Anne. Hin und wieder redet er mit mir, als wäre ich sie. Er ist … Oh, ich wollte dir das gar nicht sagen, aber ich muss ihn immer wieder daran erinnern, dass ich es bin, ›Ich bin es, Ellen!‹, sage ich dann. Aber auch danach braucht er oft noch eine Weile, um mich zu erkennen. Das ist doch nicht normal, oder? Das würde doch jeden in den Wahnsinn treiben, findest du nicht auch?«
    Sie sammelte ihre Anziehsachen ein und stopfte sie in den hohen Leinenwäschekorb in der Ecke des Badezimmers. Ich kaute nervös an einem Fingernagel. In dem Moment wusste ich weder, was ich glauben, noch, wie ich mich verhalten sollte.
    »Vielleicht braucht er einfach noch Zeit, um über den Tod deiner Mutter hinwegzukommen«, sagte ich.
    Ellen schnaubte verächtlich. »Was er braucht, ist eine Lobotomie«, sagte sie. Ihr halb scherzhafter Ton sagte mir, dass sie sich offensichtlich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
    Sie wickelte sich in ein grünes Badetuch, beugte sich über den Badewannenrand und tauchte die Hand in das nach Äpfeln duftende Schaumbad, um die Temperatur zu prüfen. Dann drehte sie den Kaltwasserhahn auf, und das Wasser rauschte wie ein Wasserfall in die Wanne.
    Als Ellen das Badetuch löste und in die große, altmodische Wanne kletterte, wandte ich dezent den Blick ab. Sie versank im Wasser, nur ihr Kopf ragte am Kopfende aus der Schaumhülle. Sie spreizte die Hände über dem Wasser und beugte und streckte die Finger, um den Schmerz in ihren Gelenken zu lindern. Die Hitze ließ die Haut auf ihren Schultern und im Gesicht rosa werden. Dann schloss sie die Augen und ließ sich beinahe ganz ins Wasser gleiten. Nur ihre Knie ragten noch hervor. Ich wollte Ellen zeigen, dass ich für sie da war, ihr etwas Gutes tun. Also nahm ich die Shampooflasche und drückte einen Klecks in die hohle Hand, und als Ellen wieder auftauchte, begann ich, ihre Haare einzushampoonieren. Ellen ließ mich gewähren. Während ich mit den Fingern ihre Kopfhaut massierte und das Shampoo in ihrem nassen Haar verteilte, ließ sie die Augen geschlossen. Plötzlich fiel mir ein Fleck an ihrem Hals auf, ich wollte ihn abwaschen, aber er ließ sich nicht entfernen, und mir wurde klar, dass es ein kleiner Bluterguss war.
    »Was ist mit deinem Hals passiert?«
    »Die Quetschung? Das war Papa.«
    »O Ellen, bitte sag doch nicht solche Sachen.«
    »Aber wenn es stimmt!«, erwiderte sie heftig. »Ich behaupte ja nicht, dass er mirwehtun wollte. Aber Mama vielleicht.«
    Jetzt war ich mir sicher, dass sie log. Mr   Brecht mochte launisch und temperamentvoll sein, aber ich wusste, er würde niemals jemanden würgen, jedenfalls nicht Ellen oder seine Frau.
    Am Ende des langen Kirschbaumtischs im Esszimmer lagen drei Gedecke mit Silberbesteck und Leinenservietten, und Kerzen brannten in ihren Haltern. Die Hi-Fi-Anlage in der Ecke spielte eine Schallplatte. Sie war ganz leicht verzogen; ich sah es an der Art, wie sich das Licht an ihrem Rand spiegelte, während sie sich auf dem Plattenteller drehte. Es war eine knisternde Liveaufnahme eines Konzerts von Anne Brecht. Am Ende eines jeden Stücks brandete stürmischer Applaus auf.
    Es regnete noch immer, und es war dunkel geworden. Da ich seit Stunden nichts gegessen hatte, war ich hungrig.
    Ich saß Ellen gegenüber. Ihr Vater betrat den Raum. Er drückte seine Zigarette in dem gläsernen Aschenbecher auf der

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