Das Dornenhaus
ich es furchtbar aufregend. Alles, was dort geschah, schien wichtiger und intensiver zu sein, weniger alltäglich als die Dinge, die sich anderswo ereigneten. Die Gefühle waren stärker, jedes Wort, jede Handlung war von Bedeutung durchdrungen. Ellen und ihr Vater waren glamourös, sie waren völlig anders als die Menschen, die ich sonst kannte. Sie waren umwerfend in meinen Augen. Und natürlich konnte ich nicht anders, als mein Leben mit dem Ellens zu vergleichen. Während ihres herrlich poetisch und außergewöhnlich war, war meines schal und langweilig. Meine Eltern waren emotionslos und völlig berechenbar: Im Vergleich zu dem vor Leidenschaft glühenden Mr Brecht waren sie wie graue, erloschene Asche. Zu Hause fühlte ich mich eingeengt und bekam nach kurzer Zeit Platzangst. Jago arbeitete oft bis spät abends oder ging mit seinen Freunden aus, während meine Eltern von mir erwarteten, dass ich mich mit ihnen vor den kleinen alten Fernseher mit dem miserablen Empfang setzte. Außerdem hatte Dad die irritierende Angewohnheit, alles, egal, welche Sendung gerade lief, zu kommentieren. Es dauerte nicht lange, und einer von beiden – manchmal auch beide – schlief in seinem Sessel ein. Ihr Schnarchen bildete zusammen mit Trixies abgehenden Blähungen den Soundtrack zu diesen Fernsehabenden. Unser gemietetes Cottage verfügte nicht einmal über ein Viertel der Fläche von Thornfield House. Ein permanenter Geruch nach Putzmitteln und Kohl hing in der Luft. Und, am schlimmsten von allem, jeden Abend – man konnte die Uhr danach stellen – ging Dad nach dem Abendessen, The Daily Mirror unter dem Arm, nach oben und pfiff dabei den Disney-Ohrwurm Whistle While You Work , ehe er sich für mindestens zwanzig Minuten auf der Toilette einschloss. Das Leben meiner Eltern war überaus alltäglich und langweilig, erdrückend und quälend eintönig.
Der April ging in den Mai über und der Mai in den Juni. Ellen und ich bestanden die Jahresendprüfungen und nahmen in den Sommerferien wieder unsere Ferienjobs auf.
Als Ellen und ich uns eines Abends nach der Arbeit im Garten von Thornfield House sonnten, kam Mr Brecht mit einem großen, flachen Pappkarton aus Truro zurück. Der Karton war silberfarben und mit einer taubenblauen Schleife geschmückt. Mr Brecht trat in den Garten heraus, ging neben Ellen in die Hocke und reichte ihr den Karton.
»Hier, ein Geschenk, für dich.«
»Wofür denn?«
»Einfach ein Geschenk, Ellen. Braucht es denn einen Grund, wenn ein Vater seiner Tochter eine Freude machen will?«
Ellen seufzte und kniete sich neben den Karton. Wir trugen beide einen Bikini, und mir war klar, dass sich Ellen ihres guten Aussehens bewusst war. Im Kniesitz richtete sie sich gerade auf, sodass das Haar ihr über den Rücken fiel. Mir war es peinlich, mich vor Mr Brecht mit den Speckröllchen um meine Taille und meinen kaum verhüllten Brüsten zu zeigen, die größer und schwerer waren als die Ellens, also schüttelte ich mein T-Shirt aus, das ich als Nackenkissen benutzt hatte, und streifte es mir über. Mr Brecht beobachtete Ellen lächelnd. Er nahm eine Packung Zigaretten aus seiner Jacketttasche, klopfte eine heraus, steckte sie zwischen die Lippen, zündete sie an und stieß den Rauch durch die Nase aus.
Auf der Haut von Ellens Oberschenkeln zeichnete sich ein filigranes Grasmuster ab. Sie hob den Deckel von dem Karton. Darin befand sich ein silbergraues Abendkleid aus geschmeidiger Seide, dessen Halsausschnitt mit winzigen Kristallen besetzt war. Sie hob es hoch.
»Oh, das ist das schönste Kleid, das ich je gesehen habe!«, rief ich aus. Ich streckte die Hand aus, um den Stoff zu befühlen. »Es ist umwerfend, Ellen.«
Ellen faltete das Kleid zusammen und legte es wieder in den Karton.
»Willst du es nicht anprobieren?«, fragte ich.
»Später«, erwiderte sie mürrisch. Wie so oft schämte ich mich beinahe für ihr missmutiges Betragen gegenüber ihrem Vater.
»Gefällt dir das Kleid nicht?«, fragte er.
»Doch, es ist wunderschön.«
»Dann zieh es an.«
»Papa …«
»Los, ich will es an dir sehen.«
Ich verstand nicht, warum Ellen ihm nicht diesen Gefallen tun wollte. Wenn Mr Brecht mir ein solches Kleid geschenkt hätte, hätte ich es sofort angezogen und es am liebsten für immer anbehalten.
»Probier es an. Ich will wissen, ob es dir passt.«
Ellen machte ein finsteres Gesicht. Aber dann stand sie auf und streifte sich das Kleid über Kopf, Brüste, Hüften und
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