Das Dornenhaus
lange nicht mehr. Ellen hielt sich unterdessen zurück. Ich sollte mich ruhig eine Zeit lang mit Jago amüsieren, dachte sie wohl. Den ganzen Tag verbrachten wir abwechselnd im Wasser und am Strand, mal wärmten wir uns auf, dann kühlten wir uns wieder ab. Dazwischen tranken wir von dem Cidre, den Jago mitgebracht hatte, und lagen lachend und herumalbernd auf dem Rücken. Ellen streckte die Arme über den Kopf aus, es war ihr gleich, dass sich Sand in ihrem nassen Haar verfing. Lachend blickte sie in den Himmel. Jago stützte sich auf einen Ellbogen und sah sie an. Er war bereits ein wenig beschwipst und lachte ebenfalls.
»Du verrücktes, schönes Mädchen!«, sagte er. Worauf Ellen noch mehr lachte, doch plötzlich verstummte sie. Jago hatte ganz vergessen, dass sie nicht allein waren, und sich zu ihr hinuntergebeugt, um sie zu küssen. Sie stieß ihn weg, obwohl ihr nicht entgangen war, dass ich es gesehen hatte. Jago wischte sich über die Lippen, rollte sich auf die andere Seite und sah mich an.
»Ist schon okay«, sagte ich mit einem Schulterzucken. »Ich weiß, dass ihr was miteinander habt. Ich hab schon mehrmals gesehen, wie ihr euch geküsst habt.«
Ellen streckte die Hand aus und berührte mich. »Macht es dir was aus?«, fragte sie.
»Würde es etwas ändern, wenn dem so wäre?«
»Hannah, wir hatten nicht vor …«
»Sei nicht albern, natürlich macht es mir nichts aus!«, sagte ich so überzeugend wie möglich. Ich wollte ihre Ausflüchte und Entschuldigungen nicht. Ich wollte keine Einzelheiten hören. Und am wenigsten wollte ich ihr Mitleid.
»Wirst du es auch niemandem sagen?«, fragte Jago. »Du sagst doch nichts zu Mum und Dad oder Ellens …«
»Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Für wen haltet ihr mich eigentlich?«
Beide nahmen mich in die Arme und drückten mich. Dann bemühten sie sich um Wiedergutmachung und widmeten mir für den Rest des Tages ihre Aufmerksamkeit. Ellen und Jago zeigten mir ihre Dankbarkeit für meine Loyalität, indem sie mich mit Zuneigung überschütteten. Seit Langem hatte ich endlich mal wieder das Gefühl, glücklich zu sein.
Doch die Zeit verflog im Nu. Der Vormittag ging in den Nachmittag über, die Sonne wanderte quer über den Himmel, und schon lag die Hälfte unseres Strandes im Schatten, und die Luft wurde kühler. Die Batterien des kleinen scheppernden Transistorradios wurden leer, und ich machte mir Sorgen über Ellens nasses Haar. Ich versuchte, ein paar Strähnen auszuwringen, wusste jedoch, dass es ewig dauern würde, bis es trocken wäre.
»Was wirst du zu Mrs Todd sagen?«, fragte ich.
»Oh, ich werde sagen, dass ich nach der Arbeit in Polrack kurz geschwommen bin.«
»Glaubst du, sie wird dir das abnehmen?«
»Ich werde sagen, dass mir warm war.«
»Ich glaube, wir sollten jetzt besser gehen«, sagte ich.
»Ach, lasst uns noch ein kleines bisschen bleiben«, bat Ellen flehend. »Nur noch ein paar Minuten. Ich weiß nicht, wann ich wieder die Gelegenheit haben werde, an den Strand zu gehen … Ihr wisst ja, wie mein Vater ist.«
»Wenn wir jetzt gleich gehen, wird es keinen Ärger geben.«
Ellen zuckte mit den Schultern. »Ich will aber noch hierbleiben.«
Ich warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Hatte sie es darauf angelegt, zu spät nach Hause kommen und sich in Schwierigkeiten zu bringen?
Wie sie so mit gekreuzten Beinen dasaß, das lange nasse Haar über die Schulter fallend, auf Nase und Wangen einen leichten Sonnenbrand, sah sie aus wie eine Meerjungfrau. Trotzig hob sie Kieselsteine auf und warf sie ins Meer. Jago schwieg. Er suchte Treibholz zusammen. Aber wir hatten keine Zeit mehr für ein Strandfeuer. Er kam zu mir und ließ etwas in meinen Schoß gleiten.
»Blauglas«, sagte er. Ich hatte noch nie Strandglas in dieser Farbe gesehen. Das Stück maß etwa zwei Zentimeter, die Ränder waren vom Sand perfekt gerundet. Ich nahm es in die Hand.
»Es ist wunderschön, Jago«, sagte ich. »Aber es ist schon sechs, wir sollten jetzt wirklich aufbrechen.«
»Noch nicht. Lasst uns noch einen Moment bleiben«, bat Ellen. Mit dem Finger zog sie eine Linie in den Sand und verwischte sie wieder mit dem Handballen. »Am liebsten würde ich für immer hier an diesem Strand bleiben. Ich könnte in der Höhle leben.«
»Ach, du hättest bestimmt Angst allein hier unten.«
»Nein, hätte ich nicht. Ich wäre glücklich. Die Vögel und die Seehunde würden mir Gesellschaft leisten, und niemand würde je erfahren, dass ich hier
Weitere Kostenlose Bücher