Das Dornenhaus
seine dunkelgrünen Zweige über die umliegenden Gräber aus. Und da erinnerte ich mich wieder, wie ich während Mrs Brechts Beisetzung neben dem Baum gestanden hatte und einige seiner roten giftigen Beeren heruntergefallen und wie Rubine im Gras liegen geblieben waren. Ich erinnerte mich an die Grabrede des Pfarrers und wie meine Zehen in den schwarzen, zu eng gewordenen Schuhen geschmerzt hatten. Und wie ich mich für meine kindliche Schuluniform geschämt hatte. Ich erinnerte mich, wie ich das Gesicht zu Jago gedreht und er mir einen bestärkenden Blick zugeworfen hatte. Und ich erinnerte mich an Adam Tremlett, der abseits gestanden hatte, und an seinen Gesichtsausdruck.
Langsam ging ich auf das Grab zu. Das letzte Mal, als ich hier gewesen war, war es ein Loch in der Erde gewesen. Nun wurde es am Kopfende von einem Grabstein begrenzt. Er war aus schwarzem Granit, der zu einer modernen Form behauen war, die wie ein Violinschlüssel anmutete. Ein paar Zentimeter vom Rand entfernt war eine Goldborte in die geschwungene Linie der Skulptur eingelassen, und darin eingemeißelt stand in kunstvollen Lettern:
Anne Isobel Brecht.
Du warst die Musik, solange die Musik spielte.
Diese Worte waren mit Musiknoten verwoben, die den Hintergrund der Inschrift bildeten. Es war eine Passage aus dem Regentropfen-Prélude. Ich wusste es, obwohl ich keine Noten lesen konnte. Während ich den Grabstein betrachtete, hörte ich im Geiste die Musik.
Unter dieser Zeile standen in einer weniger kunstvollen Schrift drei weitere schlichte Worte, als wäre ihre Ausführung eine lästige nachträgliche Pflichtübung gewesen.
Und Ellen Brecht.
Das Grab war von Gras zugewachsen, aber jemand hatte vor dem Grabstein eine Stelle freigelegt und einen Strauß Wildblumen in einem Einmachglas daraufgestellt. Ich hockte mich hin und hob das Glas hoch. Es war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Die Blumen waren noch frisch, jemand musste sie vor Kurzem gebracht haben. Gerade als ich mich wieder aufrichtete, erblickte ich die Glasstücke und erstarrte. Jemand hatte das Strandglas, das ich als Mädchen am Bleached Scarp gesammelt und in dem Felsspalt versteckt hatte, auf den Grabstein gelegt.
Es war mein Strandglas, da war ich mir absolut sicher. Es waren ungefähr dreißig kleine Stücke, deren ehemals scharfer Rand von Wellen und Sand rund geschliffen worden war, sodass sie wie merkwürdig geformte Edelsteine aussahen. Sie waren fast gleich groß und hatten verschiedene Schattierungen von milchigem Grün und Braun, manche waren auch aus farblosem Glas. Nur ein einzelnes blaues Glasstück befand sich darunter.
Ich ergriff das blaue Glas und nahm es in die Hände, drehte es hin und her, fühlte die weiche Form zwischen den Handflächen. Es hatte die gleiche Temperatur wie meine Haut und war mir so vertraut wie mein Herzschlag.
Nur drei Menschen hatten das Versteck gekannt, wo es all die Jahre über gelegen hatte. Einer davon war tot, der andere lebte auf der anderen Seite der Erde und ich, aber ich hatte es nicht angerührt.
Wolken schoben sich vor die Sonne, und es war, als senkte die Eibe ihre Äste. Eine Krähe hockte auf dem Dach der Kirche und krächzte.
Ich steckte das blaue Glasstück in die Jackentasche, drehte mich um und stürzte durch das Friedhofstor hinaus. Ohne mich ein einziges Mal umzuwenden, um zu sehen, ob mich jemand beobachtete, rannte ich den ganzen Weg zurück, bis ich das Cottage meiner Eltern erreichte.
ACHTUNDZWANZIG
N achdem ich gesehen hatte, wie sich Ellen und Jago auf der Hafenmauer geküsst hatten, ging ich ihr erst recht aus dem Weg. Jago strafte ich so weit wie möglich mit Nichtachtung.
Mr Brecht hatte recht gehabt, sie hatten mich betrogen und taten es noch immer. Beide hatten mich angelogen und mich benutzt. Wenn sie sich mir anvertraut hätten, ehrlich zu mir gewesen wären, hätte ich womöglich anders empfunden. Aber sie waren unaufrichtig gewesen. Und so verwandelte sich mein Ärger in unterdrückte Wut, die in mir vor sich hin köchelte, mit der latenten Gefahr, eines Tages außer Kontrolle zu geraten und überzukochen.
Nachdem ich wusste, wonach ich Ausschau halten musste, waren die Zeichen ihres Verrats allgegenwärtig. Jago war neunzehn, er kam und ging, wie es ihm beliebte, aber ich merkte dennoch, wenn er log. Nun, da ich überall Lügen witterte, entdeckte ich sie auch überall. Mal erzählte er, er habe länger arbeiten müssen, mal wollte er angeblich zum Bauernhof der Williams’, obwohl
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