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Das Dornenhaus

Das Dornenhaus

Titel: Das Dornenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Turney
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ich kurz zuvor die Williams-Zwillinge hatte wegfahren sehen. Er hielt sich jetzt öfter allein in seinem Zimmer auf, anstatt die Zeit mit mir zu verbringen. Früher war er gern mit mir zusammen gewesen, das wusste ich, aber nun schien ihm meine Gegenwart unangenehm zu sein. Anscheinend hatte er keine Lust mehr, sich mit mir abzugeben.
    Für Ellen musste es sehr viel schwieriger gewesen sein, Alibis zu finden. Sie war erst sechzehn, und ihr Vater war äußerst clever und beobachtete sie mit Argusaugen. Allerdings wusste er noch nicht, mit wem sie sich traf, noch nicht. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, ob sein Verdacht tatsächlich begründet war, doch ich nehme an, dass er seinem Instinkt vertraute. Mich konnte sie nun nicht mehr als Alibi missbrauchen. Aber sie konnte ihren Job vorschieben. Mr   Brecht fuhr ihr neuerdings nach Polrack nach. In der Hoffnung, sie auf frischer Tat zu ertappen, behielt er vom Wagen aus die Eisdiele im Auge. Wir spielten alle ein Katz- und Mausspiel. Ich beobachtete vom Hotel aus Mr   Brecht, der Ellen nachspionierte. An manchen Tagen sah ich Jago ein Dutzend Mal an der Eisdiele vorbeigehen, darauf wartend, dass die Luft rein war und er hineingehen konnte. Keiner von ihnen wusste, dass ich sie beobachtete. Die Tatsache, dass ich die Einzige war, die alles wusste, vermittelte mir ein verführerisches Machtgefühl. Oft spielte ich in Gedanken damit. Ich überlegte, was ich mit dieser Macht anstellen könnte.
    Ich tat jedoch nichts; damals noch nicht. Stattdessen beließ ich es bei meiner Rolle als Beobachterin. Ich sah Jago und Ellen zusammen im Hafen sitzen. Ich sah, wie sie sich in einer der winzigen Seitengassen des Hafenstädtchens küssten, sah, wie Jago sich an Ellen presste und sie die Arme um seinen Hals schlang. Mir entging nicht, dass Jago in letzter Zeit viel fröhlicher war, was ihn noch attraktiver machte. Ihn so glücklich zu erleben, stachelte meine Eifersucht zusätzlich an. Unterdessen wurde ich immer mürrischer und verdrießlicher. Und einsamer. So schmerzlich es für mich war, ich konnte nicht aufhören, die beiden zu beschatten. Gleichzeitig bereitete es mir Genugtuung, wenn ich sie bei einer Lüge ertappte oder sie zusammen sah, Genugtuung darüber, dass meine Wut auf Ellen berechtigt war. Nun wusste ich, wie Mr Brecht sich fühlen musste. Nun wusste ich, warum er manchmal so grausam war: weil Ellen eine rücksichtslose Lügnerin war. Wir beide, Mr   Brecht und ich, waren ihr egal. Sie dachte nur an sich.
    Ellen bemühte sich unterdessen, sich wieder in meine Gunst zu schmeicheln, aber auch wenn ich ihr keine direkte Abfuhr erteilte, ließ ich sie indirekt abblitzen. Im Bus setzte ich mich nicht mehr neben sie, und auf dem Nachhauseweg nahm ich Umwege in Kauf, um nicht an Thornfield House vorbeigehen zu müssen. Wenn sie zu mir nach Hause oder ins Hotel kam, um mich zu besuchen, erfand ich eine Ausrede oder ließ mich verleugnen.
    Eines Tages trat Jago in mein Zimmer und fragte mich, ob ich Lust hätte, mit Ellen und ihm einen Ausflug zum Bleached Scarp zu unternehmen, wie früher immer.
    Wir waren den ganzen Sommer über noch kein einziges Mal dort gewesen, und ich vermisste die Zeit, die ich mit Ellen und Jago verbracht hatte. Irgendwie wusste ich – mein Bauchgefühl sagte es mir –, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir drei zusammen wären. Und dieses Gefühl in Verbindung mit der Tatsache, dass ich mich nach Jagos Aufmerksamkeit sehnte, ließ mich auf seinen Vorschlag eingehen.
    Am nächsten Morgen setzte ich mich im Bus nach Polrack neben Ellen. Lächelnd, aber auch ein wenig argwöhnisch sah sie mich an. Ich sagte, dass Jago mich gefragt habe, ob ich zum Bleached Scarp mitkommen wolle, und fragte sie, wie sie es anstellen wolle, von ihrem Vater die Erlaubnis zu bekommen, einen ganzen Tag wegzubleiben.
    »Er fährt nach London, um einen Rechtsanwalt zu treffen; es geht um Mamas Vermögen. Ich habe gehört, wie er mit ihm telefoniert hat. Danach trifft er sich mit ein paar Leuten aus der Musikbranche. Sie haben ihn zum Abendessen eingeladen und ein Zimmer für ihn in einem Hotel gebucht. Er freut sich darauf. Ich glaube sogar, er hat es auf eine der Frauen abgesehen, vielleicht will er mit ihr schlafen.«
    Ich musste mir auf die Lippen beißen, um ihr nicht empört zu widersprechen. Mr   Brecht interessierte sich nicht für andere Frauen. Er war treu und liebte Ellens Mutter noch immer, davon war ich überzeugt; er gehörte nicht zu der

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