Das Drachenboot
dich frage, ob du heute nacht in meinem Haus bleiben willst?« fragte Aud zögernd.
»Nein«, sagte Folke lächelnd, was sie im Dunkeln nicht sehen konnte. »Wir werden beide unseren Nutzen davon haben, du den Schutz, ich ein bequemes Lager.«
»So meinte ich es«, stellte Aud erleichtert fest, und hatte fast ein schlechtes Gewissen, denn durch ihre Einladung zwang sie Folke, mit seinem Leben für sie einzustehen. Aber ihr Leben war durch eine einzige Handlung, die ihrer Ehrlichkeit und Dankbarkeit entsprungen war, weitaus gefährdeter als vordem, und sie hatte einen schutzlosen Bruder, für den sie verantwortlich war. Mit zwiespältigen Gefühlen führte sie Folke auf Umwegen zu ihrem Haus im oberen Teil des Dorfes.
Trotz allem schlief Folke ruhig wie ein Igel im Reisighaufen, und Aud mußte ihn am nächsten Morgen wachrütteln. Sie warf einen liebevollen Blick auf ihren Bruder, der eingerollt an Folkes Rücken in ruhigerem Schlaf lag als seit langem. »Er war wieder da«, flüsterte sie in Folkes Ohr.
»Wer?« fragte Folke und griff bereits nach seinen Waffen am Kopfende des Lagers.
Aud legte den Finger über den Mund und deutete auf Bjarke. Folke erhob sich vorsichtig und tappte ans Feuer, wo schon das Morgenmahl im Kessel dampfte. Erst als Folke anfing, hungrig zu löffeln, erzählte sie ihm, was sie erfahren hatte. »Er hat heute nacht im Dorf gestohlen, trotz der Wachen. Niemand weiß, was mit ihm ist. Er muß heillos sein.« Aud schauerte zusammen, und Folke konnte sie verstehen. Ein heilloser Mann galt als gefährlich.
»Aud«, sagte er und ließ den Löffel in der Schale ruhen, »Aud, seit wann ist dieser Mann da? Bitte erinnere dich genau, es ist wichtig!«
Aud spürte seine Anspannung. Sie wußte nicht, warum ihm die Antwort derartig wichtig war, aber sie stellte ihre Schüssel auf dem Boden ab und fing an zu zählen. »Gestern war Freyjas Tag. Da habt ihr das Haus abgebrannt, und der Mann wurde nicht gesehen. Aber in der Nacht davor war er zum ersten Mal im Dorf. Am Abend eigentlich.«
»Was hat er denn gemacht?«
»Er erschien am Waldrand und sah zum Dorf herüber.«
»Das kann doch nicht alles sein«, wandte Folke ein.
»Doch«, bekräftigte Aud und versuchte dann, Folke klarzumachen, daß er auf alle bedrohlich gewirkt hatte, die zu den oberen Häusern gekommen waren, um nach ihm Ausschau zu halten. »Er war ja fremd, kein Erri-Bewohner, und doch kam er nicht herüber, um irgend etwas zu erbitten oder zu erklären. Er hätte ein Schiffbrüchiger sein können - von der Ostseite.«
Folke nickte. So war das also gewesen. Die ältere Frau, die er am ersten Tag neben Aud hatte stehen sehen, kam ans Feuer. Folke rückte beiseite, um ihr Platz zu machen. Sie lebte also tatsächlich hier im Haus. Bisher hatte er sie weder gesehen noch mit ihr gesprochen. »Er ist ein Wolf, ein Wiedergänger«, flüsterte die Frau. »Ich habe ihn beobachtet.«
»Ja,« bestätigte Aud bedrückt. »Das sagen die Leute.«
»Wie sah er aus?« Folkes Entschlossenheit wirkte ernüchternd auf Aud. Ihr Gesicht verlor den ängstlichen Ausdruck, während sie nachdachte.
Die alte Frau aber beharrte eigensinnig: »Wie ein Wolf.«
»Wie ein Bauer oder ein Sklave«, antwortete Aud. »Seine Kleidung war grau.«
»Welche Farbe hatte sein Haar? Wie war er bewaffnet? Hatte er Schuhe an?« Folke wurde ungeduldig gegenüber seiner Gastgeberin. Die alte Frau beachtete er nicht mehr.
»Ja, Waffen hatte er. Einen weißen Schild und eine Axt, mehr konnte ich nicht erkennen.«
»Unheimlich«, warf die Frau ein. »Unheimlich war er. Er hat kein Gesicht, sondern eine Wolfsschnauze und drahtiges graues Fell. Und neben ihm stand ein vierbeiniger Wolf. Zwei Wölfe, ja, das sind sie. Ein zweibeiniger und ein vierbeiniger.«
Folke sah fragend zu Aud hinüber. Aber sie konnte der Erklärung nichts hinzufügen, was wirklicher gewesen wäre. Mit einer verstohlenen Geste deutete sie an, daß sie keinen Rat wußte.
Ein weißer Schild. Den für harte Kämpfe unbrauchbaren Schild aus Lindenholz hatte an Bord nur der Bauer Sven benutzt. Aber auf Erri würde es ungefähr so viele weiße Schilde geben, wie es wehrhafte Männer gab. Hinzu kam: Am Spätnachmittag von Thors Tag hatten sie den »Grauen Wolf« auf die Untiefe gesetzt, und am Abend waren alle an Land gewesen. Sollte einer von der Besatzung nach Visby geschlichen sein? Folkes Gedanken kreisten zunächst nur um die Stammbesatzung des Drachenschiffes. Dann verwarf er den Gedanken, er war zu
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