Das Drachenboot
Zwischenzeit war das Beiboot beladen worden und wieder auf dem Rückweg zum Knorr. Kaum hatte es angelegt, erschien Alfs Kopf über der Bordwand, und er rief mit gellender Stimme wie einer, der sich wichtig machen will: »Hjalti, die Visbyer haben in der Nacht das Mehl und die zwei Räucherschinken gestohlen!«
Die Männer sprangen auf, und Hjalti schlug mit der geballten Faust vor Wut auf den Mast, der noch nicht gesetzt war und in den Gabelstützen vibrierte. Folke hörte auf, mit seinem Messer in den Resten der abgebrochenen Holzdübel herumzustochern. Mehl und Räucherschinken. Viel mehr hatte das Bauernhaus nicht hergegeben. Aber die Norweger brauchten schließlich den Proviant. Nun würde alles wieder von vorn anfangen. Er konnte ihre Wut verstehen.
Die ersten stiegen bereits in das kleine Boot, mit dem Aslak und Folke gekommen waren, während Alf Schlafsäcke und Beutel hastig über die Reling in den Knorr schleuderte. Niemand kümmerte sich darum, wo sie hinflogen; rachedurstig wollten alle gleichzeitig an Land.
Nur Aslak fand keinen Platz, und Folke blieb freiwillig zurück. Er war froh, daß Hrolf noch eine Weile ausbleiben würde und ihm eine Frist zum Arbeiten blieb. Hjalti versprach im Ablegen, Aslak ein Boot zurückzuschicken. Dann war nur noch das Plätschern der Ruder zu hören, und nach einer Weile verstummte auch das. Mittlerweile hatte Folke angefangen, sich unter den Hölzern umzusehen, die für die Reparatur schon bereitgelegt worden waren. Aslak half ihm beim Umschichten und Wegstauen. »Aslak«, sagte Folke jäh und ließ den Holzklotz fallen, den er ausgesucht hatte, »kommt dir das nicht merkwürdig vor?«
»Was?«
»Daß die Dörfler ausgerechnet nur diese drei Sachen gestohlen haben sollen?«
»Vielleicht war es nur ein einziger Mann, der nicht mehr schleppen konnte«, gab Aslak zu bedenken. »Haben denn deine Leute nicht wertvollere Dinge unter ihren Sachen als Schinken und Mehl?«
Folke schüttelte den Kopf. »Aslak, für einen Diebstahl ist es das falsche Diebesgut, und für einen Racheakt ist es zuwenig.«
Aslak hob den Klotz auf, wendete und betrachtete ihn, als ob von ihm sein Leben abhinge. »Was du sagst, klingt vernünftig, und ich möchte es gern glauben. Natürlich haben alle ein wenig Schmuck von den Slawen mitgebracht, und bestimmt liegt alles am Strand auf einem Haufen. Aber verstehen kann ich es nicht! Ich kann dir sagen, Folke, selbst Odin, der Runenbringer, wäre da ratlos. Nur eins weiß ich: Auf diese Insel komme ich nie wieder zurück!«
»Ach, Aslak«, rief Folke, »gib doch nicht der Insel die Schuld. Ich sage dir, wir haben denjenigen mitgebracht, der all diese Verwirrung gestiftet hat! Sven hat heute nacht im Dorf eingebrochen, und ich wette, er hat auch euren Vorrat gestohlen. Sven ist nicht mit Högni zurückgefahren!«
»Wenn du recht hast«, sagte Aslak besorgt, »dann steht es schlimm um die Visbyer. Dann werden sie ganz schuldlos Häuser und Höfe verlieren. Ich fürchte, die Mannschaft ist wie eine Horde von Lemmingen durchs Dorf unterwegs: sie strömen hinüber und hindurch, und hinter ihnen wird die Welt kahl. Hjalti ist nicht der Mann, sie aufzuhalten, vor allem nicht, wenn es Alf ist, der sie aufstachelt. Geirmund wird das gar nicht schmecken!«
Sie sprangen an die Bordwand. Kein Mensch war am Strand. Die Boote waren hochgezogen und nicht vertäut, und die Ruder lagen auf dem Sand. Aslak und Folke blickten sich um. Während sie überlegten, ob sie an Land schwimmen sollten, rumpelte es leise an der seeseitigen Bordwand, und zwei kleine Hände schoben sich über die Schildleisten. Gleich dahinter erschien ein roter Haarschopf. Blaue Augen suchten das Deck ab und entschieden dann, daß die Lage ungefährlich war.
»Bjarke«, staunte Folke.
»Aud schickt mich dich holen«, meldete der Junge. »Deine Leute überfallen Visby!«
»Und was soll ich?«
»Ich glaube, du sollst sie davon abhalten, weil du doch zu ihnen gehörst, aber das weiß ich nicht genau«, antwortete Bjarke wahrheitsgemäß. »Aud war so aufgeregt.«
»Schnell«, sagte Folke.
Aslak beugte sich über die Reling. Das Boot, das der Junge ruderte, war ausreichend groß für zwei Männer und einen Knaben. Ohne weiteres stieg er hinein.
Sie ruderten nicht an die Lände, sondern südlich der Bucht an Land, wo heute kein Mensch war. Dann führte Bjarke sie auf einen Steig an einem Bach, den sie geduckt entlangrannten. Das Buschwerk hätte die Männer vor neugierigen Augen aus dem
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