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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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darunter verstand. Geduldig erklärte Yelanah: »Ich will dir gerne sagen, was das bedeutet, denn es ist kein Geheimnis. Es ist eine schöne und traurige Geschichte. Wo ich herkomme, erzählt man sie schon seit vielen hundert Jahren.«
    Revyn legte vorsichtig die Arme auf seine angezogenen Knie. »Ich würde sie gerne hören.«
    Das Mädchen nickte. »Vor vielen, vielen Jahren, als die Völker noch verbrüdert waren, wurden die heiligen Dar’hana, die ihr Menschen … wie heißt das - Drachen nennt, sie wurden von allen Völkern geachtet. Aber dann brach das Bündnis mit einem Volk, denn es hatte listige Männer und Frauen hervorgebracht, die sich mehr Macht aneigneten, als ein Sterblicher tragen sollte. Sie gaben all den heiligen Dingen Namen, die nicht benannt werden dürfen, zerrten Götter und Zauber mit ihrem Verstand in die Wirklichkeit und in die Zerstörung. Sie wollten besitzen, was man nicht besitzen kann. Sie nahmen sich das Land, bald das Wasser, den Wald, die Bäume und selbst die Tiere. Nur ein Volk entzog sich ihrer Herrschaft, nämlich das der Elfen. Es floh immer tiefer in die Wälder. So verging die Zeit, und die Menschen vergaßen die Vergangenheit und die Verbundenheit, die sie einst mit allen und allem gehabt hatten. Ihr Stamm wuchs rasch, sie erbauten Dörfer, Städte, errichteten Königreiche … Mittlerweile hatten sie begonnen, einander zu bekriegen, denn ihre Klugheit ging mit Ehrgeiz Hand in Hand. Sie wurden eifersüchtig und neidisch auf ihre eigenen Besitztümer - und die Kriege, die daraus entstanden, wären im Grunde gut gewesen. Denn dann hätte ihre eigene Habgier sie vernichtet. Doch wieder war es ihre List, die sie davor rettete. Es kamen schlaue Männer und Frauen, die nicht selbst kämpften, sondern andere Stämme für sich streiten ließen. Sie trieben die Dar’hana aus den heiligen Nebeln. Sie trieben sie in die niedere, harte Realität, in der ihresgleichen leidet wie ein Mensch in eisigem Wasser. So fielen die heiligen Stämme in die Gefangenschaft der Menschen und mussten fortan ihre Kriege führen, für sie bluten und sterben und töten.« Yelanah hatte immer wieder ein kleines Stöckchen in den Boden gebohrt, doch nun brach es. Nachdenklich rieb sie die zerbrochenen Hälften in der Hand.
    »Die Elfen klagten bitterlich, denn die Gefangenschaft unter den Menschen zerstörte das halbgöttliche Wesen der Dar’hana. Sie wurden zu gewöhnlichen Tieren. Die Legende sagt, dass das Elfenvolk keine Trauer kannte, bis das Leid der Drachen sie so erschütterte, dass jeder Elf einen Stein schluckte - und die Steine wurden ihre Herzen. In jenen düsteren Tagen, die unserer elenden Zeit vorangingen, wurden im Elfenvolk besondere Kinder geboren. Kinder, in denen die Geister der Nebel lebten. Sie gehörten dem Volk der Elfen an, doch ihre Seelen waren der Nebelwelt angehörig. Eine magische Verbindung bestand zwischen ihnen und den Stämmen der Dar’hana. Die Kinder verließen ihr Volk und gingen fort in die Ewigen Nebel zu denen, die ihr Menschen bereits Drachen nanntet. Ein Kind schloss sich jedem Stamm der Dar’hana an. Ein Kind, das fortan in den Nebeln der Halbwirklichkeit leben und seinen
    Stamm vor der Knechtschaft der Menschen schützen sollte. Das Volk der Elfen nannte diese Kinder Kleine Götter, denn in ihnen schlugen ja die Herzen der Dar’hana. Meleyis , das bedeutet Ewige Tochter, und Mahyûr nannte man die Ewigen Söhne der Nebel. Die Geister dieser Kinder kommen immer wieder, solange das Leid der heiligen Stämme existiert. Ich … bin die letzte Tochter der Nebelgeister.«
    »Die letzte?«, wiederholte Revyn. Jähes Unbehagen überkam ihn; auch Yelanah schien zu schaudern. Sie senkte den Blick, und ihre Kieferknochen traten hervor, als sie die Zähne zusammenbiss.
    »Die letzte, ja. Es scheint, als hätten die Geister der Vergangenheit es aufgegeben. Sie kehren nicht als neue Kinder wieder. Die einzige Meleyis , die es noch gibt, bin ich. Ganz allein.« Eine Weile blickten beide in die Flammen.
    »Wieso gibt es keine Kleinen Götter mehr außer dir?«, fragte Revyn.
    Yelanah hatte den Kopf auf die Knie gelegt und er sah ihr Gesicht nicht. Vielleicht hatte sie ihn nicht gehört oder wollte ihm nicht antworten. Doch dann erklang ihre Stimme, leise und erschöpft: »Wozu brauchen die Dar’ hana Schutz, wenn sie verschwinden? Aber …« Sie winkte ab. »… wie solltest du davon wissen? Die Menschen wissen nichts, nichts von den Dingen, die vor ihren Augen geschehen.

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