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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Revyn näher kam, sah er, dass sie selbst von Spinnweben bedeckt war: Ihre knochigen Hände, ihr dünnes Haar, ihr Kleid, alles war von den klebrigen weißen Fäden umwickelt wie eine Made in ihrem Kokon. Nur ihre Kette mit dem schönen Anhänger war ganz frei und schien von innen heraus zu leuchten.
    »Mama …« Seine Finger berührten fast ihre Schulter. Sie sah ihn noch immer nicht an, doch ihr Mund riss auf und sie stieß einen Schrei aus. Es war ein heiserer, schwacher Schrei, doch er ließ die gesamte Hütte erbeben. Die Wände stürzten ein. Bretter flogen durch die Luft, Heu wirbelte auf, so wie in Logond, als die Drachen ihre Ställe zerstört hatten. Revyn musste sein Gesicht mit den Armen schützen. Als er wieder aufblickte, war die hintere Mauer des Hauses vollkommen verschwunden, und seine Mutter lief durch die Wiesen.
    »Mama!« Er rannte ihr nach. Das hohe Gras rauschte ihm um die Beine. Plötzlich fiel es ihm schwer, die Augen offen zu halten und etwas zu erkennen. Alles drohte in Finsternis zu verschwimmen … aber das durfte es nicht, nicht bevor er seine Mutter erreichte! Sie war ja hilflos!
    Seine Mutter lief direkt auf den Wald zu, wo die Bäume sich im Wind wiegten wie große Gestalten in Kapuzenmänteln. Seine Mutter verschwand zwischen ihnen und Revyn stürzte ihr nach. Spitze Äste versperrten ihm den Weg und rissen ihm Schrammen in die Haut. Endlich war seine Mutter zwischen den Bäumen stehen geblieben. Zweige und Blätter wirbelten durch den Wald, als sie sich zu Revyn umdrehte. Doch es war nicht mehr seine Mutter. Es war Yelanah.
    Wilde Bemalungen bedeckten ihr Gesicht. Erst beim Näherkommen erkannte Revyn, dass es Blut war, Blut, das sich in winzigen Ringelmustern über ihre Wangen, ihre Stirn, ihre Lippen zog. Das Muster bewegte sich, ihr Gesicht wurde zu einem flimmernden roten Schlangennest. Nur ihre Augen, leuchtend wie die eines wilden Tieres, starrten ihn unverwandt an.
    Furcht krallte sich in Revyns Herz. Er wollte wegrennen, einfach fort, ohne sich jemals umzudrehen; aber seine Füße bewegten sich unaufhaltsam auf das Mädchen zu. Die wimmelnden Schlangen auf Yelanahs Gesicht, sie hypnotisierten ihn. Er spürte, wie sich einige von ihr lösten und zu ihm übergingen. Gierig schlugen sie ihm entgegen, wie rote Flammen, wanden sich um seinen Kopf und krochen ihm in die Augen.
    Revyn schrie. Gleichzeitig riss Yelanah die starren Augen auf, ihr Mund öffnete sich - aber kein Schrei kam heraus. Kaum einen Schritt von ihm entfernt, sank sie tot zu Boden, und plötzlich wusste er nicht mehr, ob es Yelanah war oder seine Mutter oder die ermordeten Kinder oder ob er gar sich selbst dort liegen sah. Der Wald, die roten Schlangen, ihre glühenden Augen versanken in bodenloser Finsternis.
    Als Revyn aus dem Schlaf fuhr, lag ihm der Drachenschwanz auf der Brust und drückte ihn sanft zurück auf den Boden. Er murmelte Worte, an die er sich später nicht mehr erinnern konnte, dann holte ihn erneut die Schwäche des Fiebers ein.
     
    Wie viel Zeit war vergangen? Es war hell gewesen, als er die ersten Male erwacht war, doch nun umgab ihn vollkommene Dunkelheit. Er hörte Wölfe heulen, Flügel flattern und kleinere Tiere im Unterholz rascheln. Womöglich war es mehr als einmal hell gewesen, und vielleicht war dies schon die zweite oder dritte Nacht - Revyn hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Murmelnd und stöhnend, wälzte er sich auf dem harten Boden von einer Seite zur anderen, bis ihn wieder alle Kraft verließ und er sich der Erschöpfung ergab.
    Schließlich öffnete er träge die Augen. Seine Wimpern waren verklebt. Dämmriges Grau erfüllte den Wald. Irgendwo ganz nah hörte er Palagrin schnauben. Ein Gedankensatz tauchte in ihm auf, doch die Worte zerfielen sofort wie Bilder aus Staub.
    Plötzlich berührte etwas Kühles seine Stirn. War das Palagrin? Nein, es fühlte sich ganz anders an als der Drache. Ein Gesicht tauchte vor ihm auf. Zwei Augen. Revyns Herz flirrte, als er sie erkannte: Er wollte hundert Dinge auf einmal sagen und brachte doch kein Wort hervor.
    »Wieso bist du noch hier?«, fragte Yelanah. Es klang nicht freundlich.
    Langsam löste Revyn die trockenen Lippen voneinander. »Wieso … bist du wiedergekommen?«
    Ihr Blick blieb ruhig auf ihn gerichtet. »Das Reich des Waldes gehört euch Menschen nicht.«
    »Aber zurück kann ich auch nicht. Wegen dir.«
    Yelanah sah ihn an. Dann berührte etwas seine Lippen. Ein Wasserschlauch. Revyn spürte, wie die kühle

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