Das Drachentor
nicht besser. Ob ich deine Leiche sehen könnte oder nicht, tot wärst du trotzdem.
Revyn spürte, wie alles in ihm schwer zu werden schien. »In der Unwirklichkeit ist man ja nicht tot«, murmelte er, doch es klang nicht sehr aufmunternd. Er streichelte ihre Wange. Was sollte nur aus ihnen werden? Selbst wenn Revyn versuchte, so naiv wie möglich zu denken, konnte er sich nicht vorstellen, wie die Zukunft aussehen würde. Sie konnten die Drachen hier vielleicht befreien, ja - aber was dann? Gegen alle Menschen konnten sie die Drachen nicht verteidigen und gegen den Ruf der Unwirklichkeit noch weniger. Er wünschte, er könnte Yelanah mehr Hoffnung geben.
Sie wussten nicht, wie spät es war, als sie erwachten. Die Dunkelheit der Höhlen war zeitlos. Nach einer kleinen Mahlzeit zündeten sie eine neue Fackel an und machten sich auf den Weg.
Bald endete der Gang in einer Grotte. Von der Decke hingen gespenstische Felsspitzen - manche waren so lang, dass sie den Boden berührten. Yelanah und Revyn schlichen durch die Höhle wie durch das Maul eines mächtigen Monsters. Ein Labyrinth aus Grotten und Fluren erstreckte sich vor den beiden. Hier und da steckten erloschene Fackeln im Fels und ein Holzeimer trieb auf einem flachen See. Je weiter sie kamen, umso mehr spürten sie, dass sie in eine feindselige Welt eindrangen, nicht dazu gemacht, Licht und Menschen zu bergen.
»Hier bist du gefangen gehalten worden?«, flüsterte Yelanah schaudernd.
Revyn musste daran denken, dass die Höhlenkinder Jahre, fast ihr ganzes Leben hier unten verbracht hatten. Und warum? Nur aus Angst vor den Haradonen? Nein … Alasar hatte sie hier unten gehalten, um ihnen die Kälte des Gesteins einzuflößen. Die Kinder mussten in einem Grab heranwachsen, um den Tod nicht mehr zu fürchten. Aus der Finsternis, Angst und Einsamkeit schmiedete Alasar seine Krieger. Und der größte Krieger, den er geformt hatte, war er selbst.
Immer tiefer drangen Yelanah und Revyn in das Reich der Höhlen ein. Die Steine rumorten, als wachse die Erde. Dann erklang ein silbernes Klirren, wo Wassertropfen fielen; doch Leben gab es hier unten nicht mehr.
Allmählich hielt Revyn seinen Speer lockerer. Natürlich war er erleichtert, dass sie noch nicht von Höhlenkindern entdeckt worden waren - aber allmählich beunruhigte ihn, dass sie noch kein einziges Höhlenkind entdeckt hatten. Dabei liefen sie immer wieder durch Gänge, die eindeutig von Menschenhand gegraben worden waren.
Schließlich traten sie in eine Halle, die Revyn bekannt vorkam. Er blieb wie angewurzelt stehen. Es war die Höhle, in der Alasar die Drachen gehalten hatte.
Alle Karren waren leer. Die Fackeln steckten erloschen in den Wandhalterungen. Durcheinandergewirbeltes Stroh bedeckte den Boden. Die Sättel, Reitschlaufen und das viele Zaumzeug waren von den großen Haken an der Decke verschwunden.
»Wo …« Revyn leuchtete auf die verschiedenen Gitterwagen. Nichts, nur Stroh und Dreck. Yelanah trat vor. Mit starren Augen sah sie die Wagen an, sah die Kratzer und Schrammen, wo Drachenhörner gegen Holzstäbe gestoßen waren, und das Blut, das die Bretter schwarz gefärbt hatte. »Sie sind weg!« Revyn fuhr herum. Das Licht der Fackel tanzte auf Yelanahs erstarrtem Gesicht. Rote Geister schienen durch ihre Augen zu huschen, als sie seinen Blick erwiderte.
Revyn ließ die Schultern hängen. Die Finsternis schien von allen Seiten auf sie einzudringen. Sie waren einsam und verloren in der meilenweiten Schwärze, ein winziger Lichtfunken in einer unendlichen Nacht.
»Wir sind zu spät«, flüsterte er.
Alles war so schnell gegangen, dass niemand Zeit gehabt hatte, um etwas dagegen zu unternehmen. Und nun war es zu spät. Alasar führte Awrahell in den Krieg - nicht gegen Myrdhan, sondern gegen Haradon.
Gleich nach der Krönung hatte er Awrahells Generäle durch seine Höhlenkrieger ersetzt, die das militärische Kommando übernahmen. Am selben Tag waren drei der haradonischen Gesandten in ihren Kammern überrascht und enthauptet worden. Den vierten und letzten Gesandten schickte der König von Awrahell zurück nach Haradon, mit einer Botschaft an König Helrodir: den Köpfen der drei anderen Männer.
Gewiss hätte Alasar dem König von Haradon auch einen förmlichen Brief zustellen können, in dem er ihm offiziell den Krieg erklärte. Aber wozu den üblichen Weg nehmen, wenn es auch eindeutiger ging? Abgesehen davon hatte Jale ihn gebeten, alle Briefe an Helrodir mit ihr zusammen
Weitere Kostenlose Bücher