Das Drachentor
Octaris, und es lag nicht nur Feierlichkeit in seiner Stimme, sondern auch ein ehrfürchtiger Unterton, so als wolle er eine großartige Person besuchen. »Möchtest du wieder zuhören und mein Gedächtnis sein, Ardhes- ayen ?«
Ardhes nickte. Sie war erleichtert, dass ihr Vater so abgelenkt war. »Ja, gerne.«
Octaris schloss die Augen. Eine Zeit lang war nichts zu hören außer seinem tiefen Atmen. Dann begann er zu sprechen, langsam, aus der Ferne, wie ein Träumender …
»Tief ins Gras gekauert, lauschte Revyn den Stimmen im Haus. Das Wimmern und Weinen seiner Mutter verstummte. Offensichtlich war sein Bruder eingetreten. Sein Vater erzählte etwas von ihrem Sieg in Myrdhan. Er hatte Soldaten im Dorf versprochen, dass er seinen Sohn nach Myrdhan schicken würde …«
Ardhes dachte nach. Offenbar befanden sie sich irgendwo in Haradon, deswegen der Sieg. Und der Junge, um den es sich handelte, hieß also Revyn. Rasch versuchte sie, die Geschichte weiterzuverfolgen.
»… Als Revyn das hörte, wurde ihm schlecht. Sein Bruder! Wenn er ging … Revyn stellte sich ein Leben allein mit seinen Eltern vor, und plötzlich wünschte er, er könnte seinen Bruder begleiten, egal wohin. Fast wäre er aufgesprungen und ins Haus gerannt, um sich ihm anzuschließen.
Und dann geschah etwas, was noch nie geschehen war. Laut und klar sagte sein Bruder: Nein. Niemals. Ich will nicht weg von zu Hause.
Bald brüllten und schrien mehrere Stimmen durcheinander, und Revyn, der eben noch ins Haus hatte rennen wollen, presste sich die Hände auf die Ohren, um es nicht mit anhören zu müssen. Es war feige, ja; und vielleicht war er ein Feigling und würde nie so mutig sein wie sein Bruder.
Trotzdem hörte er Bruchstücke ihres Streits. Und was er hörte! Nie hatte sein Bruder gewagt, solche Dinge zu ihrem Vater zu sagen.
Ich hasse dich! Du Scheusal, du - lass mich, lass Mama! Du bist ein Scheusal, ein fetter Säufer, elendes Schwein! Er sagte alles, er sagte die ganze Wahrheit, und Revyn war stolz und fürchtete um seinen Bruder.
Dann hörte er, wie Gegenstände brachen. Sein Bruder schrie auf. Ein Geräusch erklang, das Revyn nie verlassen sollte. Das Geräusch eines Schürhakens, der niedersaust, immer wieder, und den Schädel seines Bruders zertrümmert.
Aller Lärm verebbte außer dem Schluchzen seiner Mutter. Sein Vater stapfte aus dem Haus.
Bitte!, wimmerte seine Mutter. Revyn sah, wie sie ihm aus dem Haus hinausfolgte und die Hände nach ihm ausstreckte. Verlass uns nicht … verlass uns nicht!
Revyn beobachtete, wie sein Vater mit eiserner Miene davonmarschierte. Er blutete aus der Nase, wo Miran ihn geschlagen hatte …«
Ardhes starrte auf ihre offenen Handflächen im Schoß. Sie konnte nicht denken und hörte die Visionen ihres Vaters kaum. Das Blut pochte durch ihre Schläfen und ihr Rücken wurde eiskalt. Der Mann, den sie lieben würde. Er war es. Die Seele, in die sie immerzu geblickt hatte, war die seine. Der junge Mann, dessen Geschichte ihr Vater endlich gefunden hatte, würde nicht nur die Zukunft der Welt verändern - sie, Ardhes, würde ihn auch lieben!
Ihre Gedanken befanden sich in einem fieberhaften Taumel. Erst als die Stimme ihres Vaters verstummte und der Blick seiner Augen wieder in die Gegenwart zurückkehrte, wurde ihr bewusst, dass sie mit starren Augen und offenem Mund dasaß.
»Ardhes?«, fragte König Octaris besorgt. »Habe ich etwas - Schlimmes gesagt?« Er verengte die Augen und versuchte, sich zu erinnern, was er soeben erzählt hatte.
»Nein, ich … habe nur überlegt«, sagte Ardhes. Sie hoffte, dass ihr Gesicht nicht zu viel von dem verriet, was in ihr vorging. »Dieser Junge, von dem du gerade erzählt hast … welche Rolle spielt er genau in dem großen Schicksalsnetz der Zukunft?«
Octaris sah sie an, als könne er direkt durch sie hindurchblicken. »Er ist noch jung, heute. Er ist jünger als jene, mit denen er sein Schicksal erfüllen wird, aber er ist der Held ihrer Geschichte. Der Held und der Schurke zugleich … Und sein Schicksal ist dies: Er wird die Tochter eines Elfenkönigs lieben, ihr in ihr Reich folgen und den Untergang eines ganzen Volkes herbeiführen. Nach unserem Helden werden die Menschen siegreich sein und der Rest wird in Dunkelheit versinken. Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein.«
Ardhes verließ ihren Vater, als die Nacht fast vorüber war. Ihr Herz hüpfte schwer und schnell. Anstatt in ihr Gemach zurückzukehren, sich in ihr Bett zu legen und zu
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