Das Drachentor
beschloss er, Licht zu machen, und kniete sich vor die Feuerstelle. Aber kaum hatte er die Feuersteine zweimal gegeneinander geschlagen, verließ ihn der Mut. Nein, er konnte kein Licht machen … Das Licht würde ihm nur die Erinnerungen zurückbringen. Ohne dass er es verhindern konnte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Er weinte atemringend in der Finsternis, bis er ganz und gar leer war.
Ein wohliges Gefühl der Stummheit überkam ihn. So musste man sich fühlen, wenn man tot war, dachte er. Vielleicht fühlte sich seine Mutter gerade so.
Lange lag er auf dem kalten Boden und regte sich nicht. Der Regen wurde immer leiser, als entferne sich die Welt mehr und mehr.
Auch seine Mutter lag nun reglos wie er, aber nicht im Haus, sondern draußen hinter der Hütte, einen Meter unter der Erde. Sie war vor drei Tagen begraben worden.
Dass sie gestorben war, war Revyns Schuld. Er hatte sie umgebracht. Nur wusste das keiner, und er war zu feige, um es jemandem zu sagen.
Revyn konnte sich daran erinnern, dass er einmal glücklich gewesen war. Natürlich hatte es immer Probleme mit seinem Vater gegeben und sie hatten öfter Hunger gehabt als die meisten anderen Familien des Dorfes - aber dennoch, er war glücklich gewesen. In den Sommern hatte er draußen mit Miran Fangen gespielt. Sie hatten gelacht und gestritten und sich durch die Wiesen gewälzt, bis Revyn sich in Mirans Griff nicht mehr bewegen konnte und atemlos um Gnade japste. Miran war vierzehn gewesen und er war acht Jahre jünger.
Dann, wenn ihr Vater abends vom Holzfällen oder der Jagd zurückkehrte - denn sie hatten keine Felder, sondern nur ein Gemüsebeet -, hörten sie auf, zu spielen. Miran ging oft ins Dorf, um das Holz und die Felle, die ihr Vater heimgebracht hatte, gegen Brot zu tauschen. Aber meistens ging ihr Vater selbst, weil er behauptete, Miran lasse sich über den Tisch ziehen, und kehrte nicht mit Brot heim, sondern mit glasigen, böse funkelnden Augen. Er betrank sich gerne.
Aber ihre Mutter liebte diesen Mann, den Revyn selbst dann noch fürchtete, wenn er tief und fest schlief. Er kam ihm unberechenbar vor, wie ein Hund, der oft gebissen worden war und selbst nichts anderes kannte. Genaues wusste Revyn nicht über die Vergangenheit seines Vaters, doch er war Soldat gewesen, ehe er seine Mutter geheiratet hatte, und über seinen ganzen Rücken zogen sich kleine, grässliche Narben. Wenn er hinter der Hütte in dem Holzbottich badete, in dem sie Regenwasser sammelten, beobachtete Revyn ihn durch die Ritzen in der Bretterwand und erschauderte bei ihrem Anblick. Die Narben schienen seinen Blick zu erwidern, wenn sein Vater ihm den Rücken kehrte, und grinsten ihn mit rötlichen, buckeligen Lippen an wie Dämonen, die im Körper seines Vaters gefangen waren und ihre Gesichter durch seine Haut pressten. Alles an diesem Mann war bösartig und schrecklich, dachte Revyn dann, aber seine Mutter liebte ihn.
Selbst nachdem Miran gestorben war und ihr Vater sie für immer verlassen hatte, liebte sie ihn noch. Jeden Abend bei Sonnenuntergang trat sie hinaus ins Dämmerlicht und blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Waldrand, als erwarte sie, dass er jeden Moment wiederkommen könnte. Dabei befühlte sie mit zittrigen Händen die Kette, die ihr Revyns Vater bei der Hochzeit geschenkt hatte - es war eine wunderschöne, kostbare Silberkette mit einem ovalen Anhänger aus Bernstein. Wahrscheinlich hatte er das Schmuckstück im Krieg erbeutet. Manchmal wenn sie den Stein fest in der Hand hielt, murmelte sie, dass ihr Mann beim Holzfällen eingeschlafen sein musste, und Revyn bekam Angst, dass sie den Verstand verlor. Als er älter wurde, begriff er, dass seine Mutter schon immer ein wenig verrückt gewesen sein musste, sonst hätte sie seinen Vater nicht lieben können. Nicht nach allem, was geschehen war.
Bei ihrem Tod hatte Revyn es nicht über sich gebracht, die Kette von ihrem Hals zu nehmen. Sie hatte ihr Schmuckstück so geliebt, als sei in dem Bernstein das Herz ihres Mannes eingeschlossen. Dabei hatte er zu Lebzeiten nur allzu oft versucht, ihr das Schmuckstück wegzunehmen und es zu verkaufen.
Auch Revyn hätte von dem Geld, das die Kette wert war, lange leben können. Er hätte sogar ein kleines Feld kaufen und bestellen können. Aber die Kette verkörperte alles, was seiner Mutter im Leben wichtig gewesen war, und er empfand es als ihr Recht, dieses magere Glück mit ins Jenseits zu nehmen.
Es war späte Nacht, als Revyn
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