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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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kam mir Ihr Brief, verglichen mit meinen Briefen, im ersten Augenblick vor wie eine Inszenierung. Ich könnte dergleichen nicht einmal beabsichtigen. Briefschreiben ist für mich abenteuerlich. Ich weiß nie, wohin ein Brief mich bringt. Und wenn er mich nicht irgendwohin bringt, dann werf ich ihn weg. Nicht immer. Fast nie. Ich gebe zu, ich muss auch Briefe wegschicken, in denen nichts passiert ist.
    Ihr Brief ist eine Wiese. Ich habe auf dieser Wiese gegrast. Tag und Nacht. Jetzt verabschiede ich das Bild Wiese und Grasen. Ich habe nämlich noch gegrast, als auf einer wirklichen Wiese längst alles abgegrast gewesen wäre. In Ihrem Brief aber wuchs alles immer wieder nach.
    Das Papier. Das ist doch Inszenierung! Dass ich jetzt noch wage, Ihnen mit dunkler Tinte auf nichts als weißem Papier zu schreiben, werfe ich mir vor. Aber dieses dekadente Beige aufzutreiben (wie denn?, wo denn?), das hieße doch, was ich darauf dann schriebe, sofort zum schwächlichen Plagiat zu machen. Ich müsste dann mindestens versuchen, auch Ihre Handschrift nachzumachen. Tatsächlich hab ich auf Wegwerfpapier Versuche unternommen. Nur so, um zu erleben, wie weit entfernt ich von einer solchen Handschrift existiere. Ihre Handschrift ist schön. Sie ist kühn. Schmiegsam. Souverän.
    Also die Wirkung Ihres Briefes! Ich kann mir diese Wirkung nicht erklären. Auch jetzt noch nicht, nach vierzehn Tagen und Nächten. Magisch. Entschuldigen Sie, ich glaube, ich benütze dieses Wort zum ersten Mal. Einfach wegen der Unerklärlichkeit der Wirkung Ihres Briefes. Normale Sätze, sympathische, aber doch ganz gewöhnliche Mitteilungen. Aber jeder Satz, jedes Wort traf mich. Jeden Satz, jedes Wort spüre ich so direkt, wie ich sonst Sprachliches nicht spüre. Also eine durch Sprache vermochte mehr als sprachliche Wirkung. Die Person. Die Person selbst. Das Lesen, eine vollkommene Vergegenwärtigung. Ich sah Sie. Hörte Sie, obwohl ich Sie in Wirklichkeit nur zwei oder drei Sätze sagen hörte.
    Ich durchsuchte den Brief natürlich nach Sätzen, die eine Antwort möglich machen. Und fand nichts. Wie wir, Iris und ich, in diesem Brief vorkommen, jämmerlich. «… einander an der Hand nehmen und davonschleichen wie Sie.» Und doch der wichtigste Satz. Sie hat uns gesehen! Ich zog Iris hinter mir her durchs Gedränge. Ich wollte durch unhöfliches Hinausdrängen allen, die uns überhaupt wahrnehmen würden, demonstrieren, dass wir dieses Gedränge und Gequatsche so schnell wie möglich verlassen wollten. Aggressiv unhöflich wollte ich uns aussehen lassen. Sie haben’s als Davonschleichen gesehen. Aber Sie haben uns gesehen! Ich war, als wir hinausdrängten, darauf gefasst, an Ihnen und Ihrem Mann vorbeizukommen. Ich drängte hinaus, um von Ihnen zu hören: Herr Schriftsteller, warum denn so eilig! Oder irgendwas der Art. Zurückgehalten wollte ich werden, deshalb drängte ich so hinaus.
    Dass Sie mir verraten, was sich bei Ihnen in der Nacht noch ereignet hat, macht mich glücklich. Das ist doch etwas. Was es ist, weiß ich nicht. Aber es ist mehr als nichts. «Beischlaf-Statistik». Wunderbar. Und das kleine Beileid! Toll. Und dass Sie sowohl Maja als auch eine Theologin sind, umgibt mich mit tausend Überhimmeln. Evangelisch zwar. Aber das ist doch meiner Dürftigkeit näher als diese mich ausradierende Molekularbiologie. Wären Sie, wie offenbar mehr als eine an diesem Abend, wären Sie so eine, die ihren Mann in jedem Augenblick seiner Molekularbiologie-Expeditionen wissend und assistierend begleitet hat, dann hätte ich nicht gewusst, wie ich an Sie hätte denken können. Theologin, das war doch eine fast verwandte Fakultät. Aber wie antworten? Zuerst vierzehn Tage und Nächte warten, das eigene Dasein erleben als einen Mangel. Erleben, wie du jede Wahrnehmung, jede Spürbarkeit überhaupt nur noch als ihr gewidmet erlebst. Obwohl es mit ihr nichts zu tun hat, denkst du, wenn du dir die Schuhe anziehst, dass sie das sieht, wie du dir die Schuhe anziehst. Und du merkst, dass alles, was man tut und denkt, nicht nur das ist, was man tut und denkt, sondern dass das immer hinausdrängt aus der augenblicklichen Situation; dass in allem diese Tendenz ist zu ihr hin.
    Jetzt also der Brief an sie. Schreib drauflos. Überleg nichts. Überlass dich deiner rechten Hand. Es muss jetzt Iris dran sein.
    Ich sage nicht: Ich liebe Iris. Obwohl es so ist. Aber das gehört nicht zum Sagbaren. Das ist eine Unsäglichkeit, die Jahrzehnte gebraucht hat, um das zu

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