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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Das Ich-kann-nichts-dafür ist das Raffinierte. Ich aber bin verantwortlich für jede Sekunde meines Lebens. Und das auch noch beruflich. Sie, die reine Verantwortungslosigkeit. Ich, das reine Gegenteil. Und das ergibt: Wir sind die Extreme, die einander berühren. Und zwar durch nichts als ihr Extremsein. Das Extremsein als solches. Eine Art reiner Rücksichtslosigkeit. Das ist wie eine Versuchsanordnung. Weil überall aus Rücksicht alles unterbleibt, was nicht unterbleiben dürfte, entsteht ein Bedürfnis nach Rücksichtslosigkeit. Paulus hält es für nötig, wenn er einmal rücksichtslos werden will, dazu zu sagen, jetzt spreche er als Narr. Also einmal nicht im Sinne des Herrn, sondern ganz persönlich als Narr. Er will auch einmal prahlen. Lasst euch doch ein wenig Unverstand von mir gefallen, schreibt er den Korinthern. Und dann kommt’s: Wenn schon geprahlt sein muss, sagt er, will ich mit meiner Schwachheit prahlen. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.
    So, jetzt haben Sie, was eine Theologin in Ihrer prahlerischen Aufführung sieht. Sie machen Ihre Schwäche zu Ihrer Stärke. Ich gebe zu, ich habe noch nie einen solchen Paulus-Jünger erlebt wie Sie. Schlagen Sie’s nach, Korinther 2. Das ist das Raffinement Ihrer Unschuld.
    Ihr Brief hat in mir eine große Ruhe bewirkt. Ich muss, was Sie sind und schreiben, Korbinian nicht mitteilen. Korbinian hat ein Recht, alles, was es gibt, messen zu wollen. Sie machen sich prinzipiell unermesslich. Damit muss ich selber fertig werden. Ich muss mir vorwerfen, dass ich mit Paulus reagiert habe, geflohen bin zum raffiniertesten Apostel überhaupt. Anstatt selber zu reagieren, verstecke ich mich hinter Paulus. Wahr ist, dass wir, Sie und ich, so schön irreal sind, dass wir das unseren Nächsten, die wir offenbar beide gleichermaßen lieben, nicht zumuten wollen. Oder können? Oder dürfen? Oder müssen?
    Sie sehen, ich habe noch damit zu tun, dass ich Korbinian nicht sagen kann, der Schriftsteller Basil Schlupp, von dem er wirklich kaum etwas gehört hat, schreibe mir Briefe. Ich sage mir, das kommt noch. Dass ich’s ihm sage. Und behelfe mich vorerst wie Sie. Wie Sie von Ihrer Iris schwärmen, so kann ich von meinem Korbinian schwärmen. Dass wir von unseren Eheliebsten schwärmen, ist einfach ein unübertrefflicher Gesprächsstoff. Seit ein Gespräch wir sind und hören können von einander. Sagt doch Hölderlin, der uns beiden gleich nah sein darf.
    Also: Gestern ist Korbinian wieder gefahren. Ich übergebe ihn Roderich jedes Mal mit der gespielten Mahnung: Passen Sie gut auf auf ihn. Er weiß, ich meine: auf der Straße. Roderich fährt Korbinian seit acht Jahren. Am Dienstag hin, am Freitag zurück. Korbinian dann am Freitagabend: Wenn er der Heimkehrfreude zu früh nachgeben würde, würde sie zur Qual. Und Qual mag er nicht. Bis an der Stadtautobahn das monströse Steglitzer Rathaus auftaucht, müsse er die Freude gefangen halten. Sie darf ein wenig Druck und Drang ausüben, aber sie darf sich nicht bewegen. Dann wäre kein Halten mehr. Ab Steglitz darf er die Kontrolle lockern, darf ein wenig Gefühl einschießen lassen. Nach der Ausfahrt darf jedes Ampel-Rot die Heimkehrfreude steigern. Und wenn er dann in der Schweitzerstraße bei uns einfährt und ich stünde nicht auf der Freitreppe, würde er sagen: Den Rückwärtsgang und zurück nach Adlershof zum Trudelturm. Zu seiner schönen Firma. Er nennt sie immer seine schöne Firma. Die Freitag-Heimkehr und der Dienstag-Abschied sind unsere Hoch-Zeiten. Und kein Telefongespräch die ganze Woche. Korbinian: Mir ist, was ich empfinde, zu schade zum Verplaudern. Tatsächlich sind wir dann beide randvoll, müssen loswerden, was sich von Dienstag bis Freitag gestaut hat. Und kein bisschen Konkurrenz zwischen Hämoglobin und dialektischer Theologie.
    Er hatte also einen Verkäufer auszuhalten, der sagte, seine Firma sei the Rolls-Royce of printing machines. Ein anderer bot ein ganz neues Kostenmanagement an zur Entdeckung neuer Verlustquellen in der Firma Transmitter und nannte seine Methode ein zielführendes Führungsinstrument. Und Korbinian: Verlustquellen entdecken, das wäre ein Beruf, den er gern hätte. Dass er Leute nicht in Verlegenheit geraten lässt, das ist – passen Sie auf – eine seiner Schwächen, die von einer Stärke nicht zu unterscheiden ist. Zum Beispiel, das gehört noch zum Geburtstagsjahrmarkt: Neulich der x-te Ehrendoktor, betagte Uni, betagter Rektor, beschädigt, im Rollstuhl.

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