Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
werden, was sie jetzt ist. Damit ist Iris dran. Ich rufe sie an, wie man eine Heilige anruft, dass sie mir beistehe, wenn meine rechte Hand sich nicht abhalten lässt, Ihnen schreiben zu wollen. Heilige Iris, bitt für mich! Sagen da wir Katholiken. Ich war immer einverstanden mit Iris’ Aussehen. Klar. Man bleibt nicht bei einander, wenn man irgendwann zugeben muss, dass man etwas übersehen hat, was man, wie sich jetzt zeigt, nicht hätte übersehen dürfen. Sei’s im Wesen oder in und an der Erscheinung. Ich nehme an, Scheidungen sind das Produkt solcher Entwicklungen. Natürlich hat es auch bei uns Verfinsterungen gegeben, die zu jener Kopflosigkeit führen, die Scheidungen möglich macht. Aber diese Kopflosigkeiten waren nie so überwältigend, dass wir uns hätten trennen wollen. Das kann so abgekürzt gesagt werden. Wichtiger ist das, was uns wirklich bestimmt hat. Iris ist schöner geworden. Das Älterwerden hat bei ihr nichts zerstört, auf das ich hätte nicht verzichten können. Das klingt wahrscheinlich männlicher, als es mir recht sein kann. Wenn ich andere Paare jahrelang erlebe und sehe, wie das Älterwerden sie ruiniert, dann sagt es in mir: Das hielte ich nicht aus. Wahrscheinlich hat das Älterwerden mich viel mehr ruiniert als Iris, und Iris erträgt das aus einem Gefühlsfundus, von dessen Vermögen ich nur eine Ahnung haben kann. Es gibt ja tausend Unglücke, und man hält, wenn man getroffen wird, mehr aus, als man, solange man noch nicht getroffen ist, glaubt. Also würde ich vielleicht auch aushalten, was mir, wenn ich dieses und jenes alt gewordene Paar erlebe, unerträglich vorkommt. Zum Glück erspart mir das sogenannte Schicksal diese Prüfung. Bis jetzt. Das heißt, Iris ist so, wie sie immer war. Und die pure Dauer dieser sogenannten Liebe ist erlebbar als eine Steigerung. Man wundert sich und lässt sich das zugutekommen. Natürlich ist es schon luxuriös, wenn das Älterwerden das einzig Bedrohliche ist! Unsere Bekannte, Frau K., hat einen Mann geheiratet, der der Vater eines behinderten Kindes ist. Fettstoffwechselstörung. Seit Jahren im Koma. Blind. Vielleicht hört es noch. Als Frau K. schwanger war, hätte sie ihr Kind für das behinderte gegeben, wenn das geholfen hätte.
Um von meiner Schwererträglichkeit zu reden: Alle Frauen, die ich sehe, sehe ich nackt. Wahrscheinlich stammt das aus der frühen Jugend, in der nichts so verboten war, wie an die Nacktheit einer Frau zu denken. Ich bin bis zum heutigen Tag fixiert auf diese Entblößungs-Automatik. Ich ziehe Frauen aus und aus und aus. Sie natürlich auch, gnädige Frau. Brechen Sie also den Verkehr, den es nicht gibt mit mir, sofort ab.
Iris zählt diese Entblößungssucht zu meinen Unerwachsenheiten, deren es mehr gibt, als mir recht ist. Andererseits sagt sie, meine Unerwachsenheit für immer sei das Einzige, was gegen den Kalender bestehe.
Ich bin es gewohnt, dass nachts Iris’ Ohren für mich wachen. Die Dunkelheit ist ihr Reich. Sag ich jetzt pompös. Und müsste sofort die Helligkeit preisen. Wir wohnen im fünften Stock mit Dachterrasse plus Kamin. Wenn es sich für Sie nicht lohnt, sich für mich zu interessieren, antworten Sie nicht mehr, und alles hat sich. Ich würde mich freuen, wenn Sie noch einmal antworten würden.
Iris hat den Führerschein. Ich nicht mehr. Sie bekommt, wenn sie auf der Autobahn fährt, regelmäßig Bußgeldbescheide wegen zu langsamen Fahrens. Sie hat ein eigenes Verkehrssystem, lässt jedem, der die Vorfahrt nicht hat, die Vorfahrt; stiftet oft, weil damit keiner rechnet, Verwirrungen. Manchmal sogar gefährliche. Irgendwann wird ihr der Führerschein auch abgenommen. Dann erst sind wir wahrscheinlich das Paar, als das wir gedacht sind. Von der Evolution. Zu mir sagt sie, wenn sie mich von Zweifeln belagert sieht: Lass alles weg, was du nicht kannst, dann bist du gut.
Iris tut so, als glaube sie an Sätze. Ich erlebe jetzt durch Sie, dass ich andauernd über die Situation hinaus tendiere, in der ich gerade bin. Und das eben nicht mit Sätzen, sondern unmittelbar. Sie sind immer die Richtung, das Ziel, das Motiv. Ich hatte das offenbar noch nicht erlebt. Ich muss mir jetzt einbilden, dass ich, bevor es Sie gab, immer gewusst habe, in jedem Augenblick, wozu mir das, was mich in diesem Augenblick bestimmte, dienen würde. Pläne, Ängste, Gedankenzeug jeder Art. Und jetzt nichts mehr dergleichen. Nur noch Sie als Zeugin von allem. Allem Inneren und allem Äußeren. Ich wasche mir die
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