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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Hände, denke aber nicht mehr an das, was ich nachher tun oder schreiben werde, sondern nur noch, dass es Sie gibt und dass ich, meine Hände waschend, an Sie denke. Und das genügt jetzt immer. Dass Sie dabei sind. Ich bin offenbar auf Sie orientiert. Und noch eine Erfahrung (durch Sie): Es geht in uns offenbar andauernd etwas vor, was wir dem, der da ist, nicht sagen können. Was in mir jetzt vorgeht, passt nicht ins Alltägliche.
    Diese flammenhaft aufschießende Illusion, ich könne mich an Sie wenden. Die tägliche Last loswerden. Bei Ihnen. Bevor ich Sie gesehen hatte, war diese Last nicht so deutlich spürbar. Dann Sie, und jetzt die Einbildung: Hin zu Ihnen, dann wäre ich die Last los. Die Einbildung nährt sich davon, dass ich ununterbrochen an Sie denke. Dieser Zwang ist mir neu. Seit ich Sie gesehen habe, hat mein Dasein eine Tendenz. Plötzlich will ich alles, was mir durch den Kopf geht, irgendwohin sagen. Sonst ging es durch den Kopf, wurde mehr oder weniger bemerkt. Jetzt tut es so, als könne es in meinem Kopf nicht bleiben. Es stößt sich sozusagen wund in meinem Kopf. Will hinaus. Und nur zu Ihnen. Und das andauernd. Auch wenn es mit Ihnen nichts zu tun hat. Jetzt glaube ich, ohne Sie nicht auskommen zu können. Von Ihnen bemerkt zu werden, ist jetzt die Tendenz von allem, was ich bin. Blöd, gell.
    Wenn ich nur schon ertrunken wäre! Immer noch diese Schwimmbewegungen gegen das Ertrinken. Dieses Hinausschieben dessen, was kommen muss. Das Wachsenlassen zukünftigen Unglücks.
    Ich komme mir erpresserisch vor. Wenn ich Ihnen eine solche Wichtigkeit andichte für mich, will ich Sie dadurch zwingen, mir zu antworten? Nein. Das wissen Sie so gut wie ich. Solche Befallenheit ist auch zu bezeichnen als eine Infektion. Das geht vorbei. Jeder hat das mehr als einmal erlebt. Also gehen Sie Ihres Weges. Ich will von Ihnen nichts sehen oder hören, wenn Sie das nur meinetwegen für nötig halten. Iris kann ich noch nichts sagen über Sie. Ich wüsste überhaupt nicht, wie ich Iris mitteilen könnte, was ich jetzt erlebe. Durch Sie. Das ist Ihre krasseste Wirkung: Bis jetzt lebten Iris und ich in der Stimmung, einander immer alles mitteilen zu können. Und jetzt das. Das krasse Gegenteil. Ununterbrochen spüre ich, ich kann Iris nicht mitteilen, dass ich ununterbrochen über die jetzige Situation hinausdenken muss; dass ich nichts mehr empfinde oder denke, was nicht vor Ihnen, zu Ihnen hin stattfindet. Ihre Gegenwart kann ich Allgegenwart nennen.
    Ich hoffe natürlich auch auf baldige … Heilung? Nein. Viel gesünder, als ich mich jetzt fühle, kann man nicht sein. Übrigens: In mir ist nichts so krass vorhanden wie das Gefühl, dass alles, was ich vor Ihnen tue und denke, völlig sinnlos ist, weil es für den Zustand, den ich erlebe, keine Art von Wirklichkeit gibt. Dass ich Sie nicht mehr sehen werde, ist mir so gegenwärtig wie Sie selbst. Ich will und werde Sie nicht mehr sehen. Aber eben deshalb, so gaukelt es mir vor, muss ich Ihre Allgegenwart in mir nicht bekämpfen. Und es gäbe ohnehin nicht die geringste Aussicht, Ihre Gegenwart in mir zu mindern oder zu mildern.
    Gut, jetzt ist aus dem Brief das geworden, was ich nicht habe wollen können. Das Briefabenteuer eben. Lassen wir’s dabei.
    So grüßt Sie der Briefabenteurer, den es verschlägt, wohin es will, nicht er.
    Basil Schlupp

    PS: Dass Sie «trügerisch gesund» aussehen, möchte ich naseweis ändern in «verräterisch gesund». Mit der Herkunft Ihrer Farbe kann ich nicht konkurrieren. Meine verdanke ich nur dem In-den-Himmel-Starren von unserer Dachterrasse aus: 24 Quadratmeter (6 × 4).

5
    Lieber Herr Schlupp,
    … komisch, zu diesem Nachnamen passt Herr nicht so gut wie Ihr Vorname. Lieber Basil Schlupp also, entweder sind Sie beängstigend raffiniert oder grotesk unschuldig. Beides. Das weiß ich doch. Und vertrete es und werde deshalb häufiger verachtet als gelobt. Unser heiliger Kierkegaard hat es so gewollt, dass nur das Entweder-oder gilt, nicht aber das Sowohl-als-auch. Ich sollte längst ein Buch schreiben, in dem das Entweder-oder als die männliche Sackgasse erscheint, die es ist. Das allumfassend Weibliche als das welterhaltende Sowohl-als-auch. Dass Extreme einander berühren, ist doch bekannt genug. Zum Glück. Also sind Sie sowohl beängstigend raffiniert als auch grotesk unschuldig. Sie lassen sich gehen oder treiben, egal wohin. Damit sagen Sie, Sie können nichts dafür. Das Sich-gehen-Lassen ist das Unschuldige.

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