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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Sie. Sie haben z.B. Strandhafer nicht gelesen. Vorher nicht und nachher auch nicht. Sie hätten es erwähnt, wenn Sie’s gelesen hätten. Schwer auszudrücken, wie großartig ich das finde. Ich bewundere Ihre Unabhängigkeit. Sie sind wie nicht erreichbar durch alles Gewöhnliche. Ich mache jetzt einen Fehler, den ich nicht korrigieren werde. Das verspreche ich mir. Ich schreibe Ihnen ein Stück aus dem Strandhafer hin.
Wir, die Feinen, die Fresser, die Verrückten, die Lauscher, die Leisen, die Gegenstandslosen in einer Welt, in der das Gegenständliche zählt. Wir, die Ängstlichen, die davon leben, den anderen Angst einzujagen. Angstexperten, wir. Und wollen uns dann von denen, denen wir Angst eingejagt haben, aus der Hand fressen lassen.
    Ich bilde mir ein, Ihre Stimme zu hören. Die sagt: Weiter. Also weiter.
Wenn man eine solche Botschaft überbringt, ist man besser nicht naturalistisch, sondern entwirft ein Gemälde all der Wünsche, die immer den Ausschlag geben. Wilde Tapeten, ersaufendes Licht, ein orientalischer Duft, Klassik als Kitsch, ein traumhaftes Service, Fleisch und Wein mit erfundenen Namen, verzehrende Blicke, herüber und hinüber, die Form muss gewahrt werden, solange es geht, dann aber nicht mehr.
    Und wie immer, wenn es mir nicht gelungen ist, mich zu beherrschen, geniere ich mich jetzt. Und höre auf. Ich werde mir immer weniger befehlen. Ich kann mir (im Augenblick) nicht vorstellen, dass ich mir überhaupt noch etwas befehle. Zum Beispiel: dass ich arbeiten soll. Das habe ich mir bis jetzt nie befehlen müssen. Jetzt müsste ich es mir befehlen. Ich habe bis jetzt immer gearbeitet, weil ich es, ohne zu arbeiten, nicht ausgehalten hätte. Jetzt würde ich es aushalten. An Sie hindenken, auf Sie zudenken, das würde genügen. Schon Ihr Aussehen! Im ersten Augenblick: dass Sie anders aussehen als alle anderen Frauen usw. Ihre Nase entspringt spektakulär zwischen den Augen und führt in einer landrückenhaften Ruhe nach unten. Ihre Nasenlöcher bleiben nicht ganz unsichtbar. Richtig sichtbar werden sie nicht. Und doch ahnt man sie nicht nur, sondern glaubt, sie … zu sehen, nicht aber wahrzunehmen. Der Mund, diese schwungvolle Schwelle. Das Kinn, fast schwer. Es will Ihr Gesicht hinabziehen. Aber das lassen Sie nicht zu. Sie tragen Ihr Gesicht, als hielten Sie es jemandem hin, den wir nicht kennen. Da Sie Theologie-Professorin sind, könnte es sein, dass Sie es Gott hinhalten. Ihre Augenbrauen! Ich habe mir Ihre Augenbrauen nicht gemerkt. Wie kann man bloß so leichtsinnig sein, sich die Augenbrauen nicht zu merken. Wenn Ihr Gesicht hochmütig wirken darf, dann durch die Augenbrauen. Das glaube ich doch. Sie sind hauptsächlich schön. Hauptsächlich gescheit. Hauptsächlich natürlich. Das erinnert mich an Iris. Genau das könnte ich von Iris sagen. Aber sagen muss ich es von Ihnen. Und – das ist das Wichtigste – Ihnen.
    B. Sch.

7
    Lieber Basil Schlupp,
    nennen wir’s ein Experiment, in das wir, ohne es zu wollen, hineingeraten sind. Aber verantwortlich sind wir trotzdem. Man muss auf sich, probeweise, anwenden alle überlieferten Verurteilungen. Experimentell, von mir aus. Ich gebe zu: Mein Mund ist voll ungebrauchter Wörter. Wenn nur die Frauen auch eine Religion gestiftet hätten oder stiften würden, anstatt den Männerreligionen zum unverdienten Erfolg zu verhelfen.
    Aletheia wäre mein Ziel.
    Lüge und Wahrheit, was für eine lächerliche Unterscheidung. Wer nach herkömmlicher Einteilung lügt, lügt immer auch sich selber an. Zuerst sich selber.
    Korbinian hat am Freitag wieder den 39-Rosen-Strauß gebracht. Immer zum Geburtstag. Weil du, sagt er, nie älter als neununddreißig wirst. Weil ich, als er diesen Strauß zum ersten Mal gebracht hat, mich nicht gleich gewehrt habe, ist dieser Strauß jetzt ein Ritual. Ich hätte schreien sollen. Wie die Rosen geschrien haben. Neununddreißig Schreie in einem Schrei. Blutrote Rosen. Freilandrosen. Abgeschnitten. Meinetwegen. Ich bin Vegetarierin. Das weiß er. Und lässt jedes Jahr neununddreißig Rosen abschneiden. Letzte Woche war es wieder so weit. Roderich muss ihn auf einem Umweg zu dieser Gärtnerei fahren, in der es diese duftigen, blutroten Freilandrosen gibt. Mindestens einmal im Jahr diese Liebeserklärung mit blutroten Rosen. Jedes Mal habe ich das Gefühl, dass wir beide etwas fühlen, was wir nicht zu sagen wagen. Es gibt zwischen Korbinian und mir nichts, was sich so ins Unsägliche entwickelt hat wie seine

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