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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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lassenden Prozedur. Verstehen Sie wenigstens so viel, dass Religion etwas anderes ist als das, was in unserer Welt dafür gehalten sein will? Was sich nicht aufheben lassen, sondern sich als Ja oder Nein selbst rechtfertigen will, das ist um deswillen gerichtet. Sagt er.
    Also: Eine Rechtfertigung kann es nur geben, sofern weder vor Gott noch vor den Menschen eine Rechtfertigung gesucht wird. Es ist keine mögliche, sondern die unmögliche Möglichkeit. Das sagt er so.
    Wenn nichts übrig bleibt, lieber Basil Schlupp, ist wenigstens nichts Falsches mehr da.
    Und dass ich mich bekenne: Eine Empfindung, die religiös genannt werden kann, ist das Erlebnis vollkommener Geschichtslosigkeit. Das reine Hier und Jetzt. Sonst nichts.
    Wenn Sie so weit gelesen haben, danke ich Ihnen.
    Bitte, fangen wir nicht an, uns darüber auseinanderzusetzen. Nur: Ich stelle es mir augenblicksweise schön vor, dass wir die Gewohnheit hätten, alle unsere Behauptungen und Rechtfertigungen so weit zu treiben, bis sie sich in ihr Gegenteil auflösen und uns zurückließen in einer Art Armut. Die Theologin überzieht. Trotzdem: Sie und ich sagen einander, was wir keinem anderen sagen können. Was wir aber ungesagt nicht ertragen. Wir sagen einander das Unsägliche. Bitte, verhalten Sie sich dazu nicht. Das muss jeder von uns empfinden, wie er muss. Bloß keine Diskussion. Ich glaube, da sind wir einig.
    Von uns beiden kann jeder nur seins sagen. Der andere soll sehen, was er damit macht.
    Bevor ich noch seelsorgerischer werde, höre ich auf. Ach ja, was ich heute gelesen habe: Es war der Bruder Senecas, der Paulus verhaften ließ.
    Ihre
Maja Schneilin

8
    Liebe Theologin,
    WAS Sie mir schreiben, berührt mich weniger, als dass Sie es mir schreiben! Ich komme mir nominiert vor. Dass Sie mich in die erbarmungslos-schönen Religions-Schluchten zu dieser theologischen Infinitesimal-Rechnung eingeladen haben, heißt für mich: Sie sind allwissend. Was mich betrifft. Sie wissen, das können Sie mir schreiben, und ich fühle mich nominiert! Und wir hüten uns zu sagen, für was. Für mich hat es keinen Sinn mehr, mich gegen den leidenden Christus zu wehren, der mich so unflätig beherrscht, wie man nichts und niemanden beherrschen sollte. Dieser erschöpfte Schmerz- und Leidensblick aus dem schon zur Seite gerutschten Dornenkopf. Wie viele tausend Stunden habe ich knien und stehen müssen vor diesem Alleräußersten. Vor einem Altar, vor Bildern, die sich einbrennen für immer. Wenn wir, Sie und ich, nicht in jedem Augenblick das schreiben können, was in diesem Augenblick unser sogenanntes Dasein ausmacht, dann können wir es – das Schreiben – lassen.
    Sie fahren sicher auch Auto, obwohl Sie wahrscheinlich nur drei Kilometer von der Uni wohnen. Ich appelliere an Sie als Autofahrerin. Ein Unfall!
    Dieses Gefühl der Niederlage. Egal, ob einem die Schuld aufgeladen wird oder nicht. Auch wenn man nachweisen kann, dass man nicht schuldig ist, das Gefühl der Niederlage bleibt. Man hätte den Unfall verhindern müssen. Und Iris! Wie es ihre Art ist, bietet sie einem, der die Vorfahrt NICHT hat, die Vorfahrt an, das verwirrt den, irritiert den, aber da er die Vorfahrt nicht hat, bleibt er stehen. Iris sieht das, entschließt sich irgendwann, ihre Vorfahrt doch auszuüben, da ist es aber dem zu dumm geworden, er fährt los, in Iris, die jetzt auch losgefahren ist, hinein. Jetzt meine Erfahrung: Du kannst einem, dem so etwas passiert, kein bisschen helfen. Die Seele ist zermürbt. Dass man allein ist – nie erlebt man es krasser als in dieser Niederlage. Es kann dir keiner helfen. Der Nächste erlebt deine Niederlage kein bisschen. Der sieht, was du erlebst, und will dir helfen. Und du spürst, er weiß nicht, was du jetzt an Nichtigkeitsschmerz erleidest. Aber natürlich will dir dein Nächster helfen. Er kann dich nicht so leiden sehen, ohne dir helfen zu wollen. So heftig wie möglich. Aber beide wissen: Diese Hilfe hilft nichts. Du weißt: Deine Hilfe ist eine Imitation. Du weißt, dass sie nicht hilft. Trotzdem musst du sie anbieten. Jetzt aber: Ich konnte Iris diese hilflose Hilfe gar nicht erst anbieten. Und das Ihretwegen. Das weiß ich, seit ich erlebe, dass ich unfähig bin, Iris zu helfen in einer Lage, in der ich ihr immer eine heftig imitierte Hilfe angeboten hatte. Und jetzt: nichts. Meine taube Hand auf ihrer zitternden Schulter. Dergleichen ist mir noch nie passiert. Das stelle ich fest. Sie hat also nichts Wirkliches verloren, nur eine

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