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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Imitation. Aber wir leben doch von Nachgemachtem. Und dass ich das nicht mehr liefern kann, ist eben Ihre Wirkung. Die ganze Unfallgeschichte ist Konversationsstoff. Aber seit Tagen warte ich darauf, Ihnen mitteilen zu können, dass ich Ihretwegen Iris nicht mehr mit der üblichen Gefühlsimitation beliefern kann. Das ist das, was ich Ihnen schreiben muss, weil es Ihre Wirkung ist. Ihnen Ihre Wirkung melden, mehr will ich nicht.
    Ihr Nominierter

9
    Lieber Vorwurfsfreudiger,
    bekannt ist mir das nicht. Das Nicht-helfen-Können.
    Da wir nun einmal dabei sind, beim anderen abzuladen – und wollen nicht wissen, warum! –, lade ich ab, was seit Jahren bei uns nicht mehr erwähnt wird.
    Verrat nennen Sie dieses Abladen. Ich gebe zu, das hat was. Wenn unsere zwei Nächsten so weit sind, dass wir’s ihnen sagen können, machen wir einen größeren Abend (in Zehlendorf!) und feiern den Verrat. Bis dahin tun wir’s, Sie und ich, proludisch und promissorisch und propudistisch und prognostisch und profund! Und, bitte, propurgistisch! Sagt die Theologin.
    Also, vor bald zwei Jahren, Samstagabend, eingeladen ist das Ehepaar Luitgard und Ludwig Froh. Sie sind nicht erschienen und haben nicht mitgeteilt, warum sie nicht erschienen sind. Unsere Lucia, die mehr als einen Tag mit der Vorbereitung beschäftigt war, brach in Tränen aus, weil weder Korbinian noch ich etwas von den kalabresischen Köstlichkeiten anrühren konnte. Also keine Luitgard, kein Ludwig! Unsere einzigen Freunde. Genauer: Ludwig war Korbinians einziger Freund. Wahrscheinlich ist das schon Grund genug für alles, was folgte bzw. nicht folgte.
    Korbinian betreibt das Radfahren wie alles, was er betreibt, ehrgeizig. In Adlershof natürlich jeden Tag. Einmal im Jahr zwei Wochen die große Tour. Immer in ein Bergland. Alles, was zwischen Karpaten und Pyrenäen hoch genug ist, hat er befahren. Einmal war auch der Schwarzwald dran. Er fährt hinauf nach Rothaus, kehrt dort ein im noblen Gasthaus, da sieht er auf der Speisekarte sofort das Gericht, um dessentwillen ihm keine Straße zu steil wäre: saure Kutteln. Die bestellt er, dazu das Bier, das im Haus dort gebraut wird. Hat gerade angefangen, diese seinem Vater gewidmete Gedächtnisspeise zu löffeln, da hört er von der Tür her den Ruf: Saure Kutteln! Ich bin dabei. Und schon sitzt der Rufer an Korbinians Tisch. So haben sie einander gefunden. Am nächsten Tag trennen sich zwei Freunde. Ludwig muss hinunter nach Waldshut, Korbinian hinüber nach Inzigkofen. Beider Ziel: Gräber der Eltern. Von da an fahren sie die große Tour jedes Jahr gemeinsam.
    Und immer wieder und immer öfter ein Abend in Zehlendorf oder bei Luitgard und Ludwig am Wannsee. Froh und Fäustle heißt Ludwigs Firma. Die druckt von Kiew bis Brüssel alles, was Geld bringt. Aber seine Leidenschaft heißt Grals-Druckerei. Da macht er aus dem Mittelalter Farbenfeste. Die andere Leidenschaft: tanzen. Das hat er Luitgard zuliebe angefangen. Sie, seine vierte Frau, wechselte ihm zuliebe in die Seniorenklasse, obwohl sie noch keine fünfunddreißig war. Und Ludwig hat durchgesetzt, dass beide lateinamerikanisch tanzen dürfen, obwohl die Seniorenklasse nur Standard darf.
    Unsere Freundschaft hätte nicht so aufblühen können, wenn wir bei ihren Amateurtanz-Meisterschaften auch nur ein einziges Mal gefehlt hätten. Korbinian zeigte da ein Interesse, dass es verwunderlich war, wie lange er schon gelebt und gearbeitet hatte, ohne bei Amateurtanz-Meisterschaften in der ersten Reihe zu sitzen und jede Regung und Bewegung SEINES Paars mit Blicken zu verschlingen. Tatsächlich sind Luitgard und Ludwig anschauenswert. Sie, eine eher feste Person, überhaupt nicht dick, aber doch vollschlank, wenn Sie mir diese vulgäre Bezeichnung gestatten, und er ein schlankes Muskel-Menu. Und beide wahrhaftig begabt. Es wäre ein Jammer gewesen, wenn sie ihre Talente unausgebildet und unangewendet hätten verkümmern lassen. Dazu der Reiz, dass sie nur im Südwesten tanzten, immer zwischen Konstanz und Mannheim, immer in Orten wie Titisee, Offenburg, Tuttlingen oder eben Waldshut. Zu Hause also. Das komische Pathos der lateinamerikanischen Tänze zelebrierten sie bis zur Parodie. Und das wissentlich. Sieger werden konnten sie nie.
    Ludwig hat den TTC Waldshut gegründet und finanziert ein ehrgeiziges Trainingsprogramm, Exweltmeister sind regelmäßig dabei. Tatsächlich nimmt das Paar an Turnieren teil, für die es nicht mehr in Frage kommt. Das Paar wird eine

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