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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Blumengabe. Einmal im Monat trägt er am Freitagabend die Blumen herein, die er wieder gefunden hat für mich. Häufig genug Strelitzien. Ach, Korbinian, sage ich dann. Und weil ich sehe, wie stolz er ist auf den Strauß, den er präsentiert, gebe ich mich so, wie er es erwartet. Strelitzien! Als er die zum ersten Mal brachte, wollte ich sagen: Ach, Korbinian, die sind aber sehr katholisch. Oft genug ist es ein Gebinde, das Roderich hereintragen muss. Gewaltige Gebinde. Ihm fehlen an der rechten Hand drei Finger. Die fehlen nie so, wie wenn er diese Blumenorgien hereinschleppen muss. Sie sehen, unsere Probleme sind keine. Wenn ich blutrote, frisch geschnittene Rosen ablehnen würde, würde Korbinian sofort sagen: Weg damit. Das würde er sagen, ohne zu verstehen, warum er das sagen muss. Wenn ich über Lüge und Wahrheit nachdenke, fallen mir Korbinians Blumengaben ein. Bei den Rosen darf es mir doch weh tun, dass sie abgeschnitten wurden! In unserem riesigen Garten, der ganz und gar mein Garten ist, habe ich die Rosen ausgehen lassen.
    Jetzt habe ich auch ein bisschen Verräterin gespielt. Aber als ich einmal sagte: Im nächsten Semester biete ich ein Seminar an über Karl Barths Der Römerbrief , kam Roderich mitten unter der Woche und brachte mir die berühmt-berüchtigte erste Fassung des Barth’schen Römerbrief-Buches. Dazu Korbinians Visitenkarte und auf deren Rückseite:
Dieses Buch kann nicht warten. Ich auch nicht.
Dein K.
    Es ist einfach unglaublich, was dieser Mann vermag. Sie als Nicht-Theologe können nicht ermessen, was er da in wenigen Tagen vollbracht hat. Das Buch des größten Theologen des 20. Jahrhunderts! In der ersten Fassung, die wirklich nirgends mehr zu haben ist, weil sie damals, 1919, eine Sensation war und eine Revolution des Denkens auslöste und abgelöst wurde von der zweiten Fassung, 1922. Und das zeigt Korbinian, wie er ist. In der ersten Fassung stand am Schluss des Vorworts, dieses Buch habe Zeit zu warten. «Der Römerbrief selbst wartet ja auch.» Verstehen Sie, Barths Text kann warten wie der Text von Paulus. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie dieser angreiferische Satz in die bürgerlich-behäbige evangelische Verschlafenheit hineinfuhr! Und das Buch mit diesem Sensationssatz schickt Korbinian mir ins Haus, weil ich gesagt habe, dass ich über Karl Barths Römerbrief-Buch ein Seminar anbieten möchte. Natürlich über das zweite Römerbrief-Buch. Aber die erste Fassung mitzubringen und die Studenten daran schnuppern zu lassen, das ist auch heute noch eine Aufregung wert. Aus meinem Plan ist – aus Feigheit – nichts geworden. Später, als bemerkbar wurde, wie sehr Karl Barth mich aus meinen Halterungen riss, hat Korbinian gesagt, er sei seriös eifersüchtig auf diesen Schweizer, den er dann gelegentlich einen Erzschweizer nannte.
    Ich darf vermuten, dass in Ihnen der Name Karl Barth keine besondere Regung auslöst. Als Korbinian sagte, er könne auf diesen Schweizer seriös eifersüchtig werden, hätte ich sagen sollen, dass ich mit einem Menschen, dem Karl Barth nichts bedeute, keine Nähe mehr wolle. Das war Sturm-und-Drang-Zeit. Aber unverständlich ist es mir auch heute noch, dass ich es aushalte, Korbinian die Kraft Karl Barths noch nicht spürbar gemacht zu haben. Jetzt verrate ich Ihnen mein Lebens-Geheimnis: Ich kann mit Korbinian nur so zusammenleben, weil ich der Zeit entgegenlebe, in der ich ihm Karl Barth erlebbar machen werde. Das weiß ich ganz sicher. Diese Zeit wird kommen. Er ist noch nicht so weit. Ich bin noch nicht so weit. Wie schrieb Karl Barth: Dieses Buch kann warten. Auch auf uns. Es handelt sich natürlich nicht um den Theologen Karl Barth, sondern um eine Weise, über Gott zu sprechen. Korbinian ist unendlich tolerant. Vernichtend tolerant. Ich könnte auch sagen: Es ist ihm egal, was Gott für mich ist. Darum hat mich Ihr Satz berührt, dass Sie, weil Sie wissen, dass Sie nicht töten können, sich vorwerfen, Sie nähmen nichts ernst. Diese Art Schlussfolgerung mag ich. Ich gehe jetzt weiter. Sehr weit. Ich riskiere sogar, dass Sie mit der gleichen vernichtenden Toleranz reagieren wie Korbinian. Ich will es aber gesagt haben.
    Karl Barth nennt Gott gern den unbekannten Gott, das sei der, an den man nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben könne. Denn keine menschliche Gebärde, sagt er, ist an sich fragwürdiger, bedenklicher, gefährlicher als eben die religiöse Gebärde.
    Jetzt bin ich schon wieder drin, in seiner nichts übrig

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