Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
Anstandsgefühl. Oder irgend so was. Gut, falls Sie vorher aufgehört haben zu lesen, bin ich kein Verräter. Ich bin aber doch einer. Diesen Traum hätte ich Ihnen nie mitteilen dürfen. Obwohl er doch durch Iris’ letzten Satz in schöner Harmonie endete.
Die kein bisschen zu steuernde Gewissensmaschinerie zwingt mich jetzt, Ihnen auch noch einen Traum von Iris zu servieren. Iris erzählte mir diesen Traum lachend. Alarmierend genug, wenn jemand einen Traum nur lachend erzählen kann. Also Iris, die selten genug wirklich lacht, erzählt mir lachend diesen Traum: Sie sei eine Lyrikerin, träumte sie, habe gerade einen Gedichtband unter dem Titel Die Anbetung der Notwendigkeit veröffentlicht, und der Bundestagspräsident habe ihre Gedichte furchtbar verhöhnt. Im Bundestag. Übertragen im Fernsehen. Dann sei der ins Haus gekommen, um sich für diesen Hohn zu entschuldigen. Sie habe ihm aber dazu keine Gelegenheit geben wollen, also sei sie vor ihm geflohen, durchs ganze Haus, auch durch Stockwerke, in denen wir nicht wohnten.
Und dann?
Irgendwo sei sie versteckt gewesen, voller Angst, dass der sie gleich entdecken werde.
Iris lachte, aber ich konnte meinen Schrecken kaum verbergen. Ich erschrak viel tiefer, als ich merken ließ. Ich hatte das Gefühl, unsere Existenz sei endgültig erschüttert. So wenig kann ich sie schützen, dass sie von solchen Träumen gequält wird! Sind wir nicht verantwortlich für die Träume unserer Nächsten? Aber mit Iris darüber sprechen konnte ich nicht.
Vorgestern – es folgt ein weiterer Verrat, allerdings ein ganz und gar harmloser –, wir waren eingeladen bei Familie S. im vierten Stock, es waren außer uns noch zwei Paare da, also insgesamt vier Paare, Intellektuelle. In Riehmers Hofgarten wohnten früher die Offiziere, heute wohnen da die heutigen Offiziere, die Intellektuellen. Einmal war vom Essen die Rede. Jede Frau musste sagen, wie sie’s mit dem Kochen halte. Iris, von der ja im Haus bekannt ist, dass sie jahraus, jahrein den Haldenhof betreibt, sagte, Kochen gehöre bei ihr nicht zur Selbstverwirklichung. Sie koche mit links, sagte sie. Ich warf ein: Sie ist allerdings Linkshänderin. Verräter, sagte sie ins Gelächter der anderen hinein. Ich stand auf, ging um den Tisch, sie saß mir gegenüber, nahm ihre Linke und lud einen Kuss ab. Da ich einfach voraussetze, dass Ehen in unseren Kreisen und in unserem Alter keinesfalls reine C-Dur-Arien sind, nutze ich jede Gelegenheit, Iris beneidenswert erscheinen zu lassen. Iris versucht jedes Mal, dieses Manöver zu stören oder gar zu zerstören. Das erhöht aber die Glaubhaftigkeit meiner Veranstaltungen.
Glaubhaft sein, das wär’s. Ich Ihnen. Ich mir. Einfach jetzt immer alles mitteilen, ich Ihnen, Sie mir, geht das zu weit? Nichts mehr bewerten, nur noch mitteilen. Gestern, nach dem Supermarkt, ist nicht alles in den Tüten, was Iris kaufen wollte. Die Äpfel fehlen. Sie gibt mir die Schuld. Nicht vorwurfsvoll, überhaupt nicht nervenbeteiligt. Sie wiederholt. Es ist unsere Szene: Du hast gefragt, welche Äpfel, die oder die, wir waren schnell einig, ich habe dann die Karotten in die Tüte gefüllt und gewogen, du wolltest dasselbe mit den Äpfeln tun, dann bist du von den Paprikaschoten angezogen worden und hast die Äpfel vergessen. Ich: Wenn ich Äpfel will, geh ich zu den Paprikaschoten, ich spinn also. Sie: Das ist das Natürlichste von der Welt. Ich: Was? Sie: Du willst Äpfel und gehst zu den Paprikaschoten, weil die mehr hermachen als die Äpfel. Während sie das sagt, hat sie schon die Äpfel eingefüllt und gewogen und geht mir voraus zur Kasse. Ich folge. Unüberzeugt. Einen Geschmack von Niederlage im Mund. Aber sie wirkt kein bisschen wie eine Siegerin. Nie. Ich könnte sagen, sie hat eine furchtbare Sachlichkeit. Wir essen, sie hat gekocht, nach den ersten paar Bissen sagt sie: Das schmeckt wirklich gut. In ihrem Ton nichts, dass sie das selber gekocht hat. Sie versteht etwas vom Kochen und vom Essen, also kann sie sagen, ob etwas gut ist. Sie könnte genau so glaubhaft sagen: Das ist mir nicht gelungen. Sie ist so glaubhaft wie kein Mensch sonst. Sie ist unfähig zur Parteilichkeit. Man könnte auf ihr Empfinden und Reagieren Gesetzbücher gründen, Verfassungen entwerfen. Ich merke, ich schwärme. Aber wenn ich Ihnen gegenüber glaubhaft sein will, und nichts will ich mehr, dann muss ich sagen, was der Fall ist.
Sie sind glaubhaft. Ich weiß nicht, was Sie sonst noch sind, aber glaubhaft sind
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