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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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habe ich Ihnen geschrieben, erst dann haben Sie mir geschrieben. Und – das ist wichtig genug – ich antworte Ihnen immer schneller als Sie mir. Um nicht der erbärmlichsten Unmittelbarkeit zu verfallen, haben wir, Sie und ich, eine Art Rhythmus entstehen lassen. Früher als in zehn Tagen gibt es keine Antwort. Aber später als nach vierzehn auch nicht. Zweimal haben Sie sechzehn Tage vergehen lassen, bis Sie schrieben. Eines Tages werden Sie gar nicht mehr antworten, und das kann so erklärungslos bleiben wie das katastrophale Wegbleiben Ihrer Freunde Luitgard und Ludwig. Ich werde, soweit ich mir das jetzt vorstellen kann, nicht sagen, dass ich Sie dann nicht vermissen werde. Weil ich nicht einsehe, dass ich Ihnen etwas, was mir wichtig ist, verschweigen soll, gestehe ich, dass ich sogar eine Art Angst erlebe, wenn von Ihnen eine Zeit lang nichts kommt. Die Vorstellung, es komme von Ihnen nichts mehr, lasse ich nicht zu. Noch nicht. Ich weiß auch, dass alles aufhören muss, und Ihr letzter Brief ist dafür ein Lehrstück, aber diese Einsicht soll ohne mich auskommen. Ich will davon nichts wissen. Andererseits, das wissen Sie auch, kann ich nicht daran interessiert sein, Sie durch solche Geständnisse zum Schreiben eines weiteren Briefes an mich zu nötigen. Siehe das Ersatzgefühl Mitleid. Ich würde es noch lieber Gefühlsersatz nennen. Was nicht ist, ist nicht.
    Andererseits hat mir Iris gerade vorgelebt, was ich von ihr lernen möchte. Warten, auch wenn nichts kommen kann, hat sie gesagt. Und sie weiß nichts von Ihnen. Warten ist etwas an und für sich, sagt sie. Ja sogar: Warten ist süß. Das ist Iris. Seit ich das von ihr gehört habe, probiere ich das aus, das Warten an und für sich. Ich kann mir sagen, dass ich auf nichts zu warten habe. Auch wenn das, worauf ich warte, eintrifft, kann es sich nur um eine weitere Täuschungs- oder Selbsttäuschungsrunde handeln. Trotzdem warte ich. Und sei’s auf nichts. Bitte. Dann warte ich eben ganz genau auf nichts. Da bin ich vielleicht Iris schon näher.
    Komisch genug: Seit ich mit Ihnen Sätze tausche, werde ich von Iris-Sätzen erreicht, die ich bisher für reine Iris-Sätze gehalten habe. Also zum Warten an und für sich gehört jene Iris-Praxis, die sich jeder Unternehmung verweigert, die direkt zu etwas führen soll. Sie hat einen Ekel vor Auftritten, die zeigen, wozu sie dienen sollen. Alles Zweckdienliche tut ihr weh. Sie will sich, wie unglücklich auch immer, frei fühlen. Neulich hat sie sich geweigert, mit mir nach Wuppertal zu fahren, weil ich gesagt habe, dass sie dort möglicherweise jemanden träfe, der ihr nützlich sein könnte.
    Eines ahne ich jetzt schon: Auf etwas Bestimmtes zu warten nimmt dem Warten jede Würde, jede Poesie. Es trivialisiert das Warten. Oder sage ich mir das nur vor, um mich zu wappnen für den Tag, an dem von Ihnen nichts mehr kommt? Aber wenn von Ihnen nichts mehr kommt, das heißt doch überhaupt nicht, dass ich nicht darauf warte, dass von Ihnen etwas kommt.
    Ich habe heute zu wenig verraten. Die Lust des Verrats ist nicht zu ihrem Recht gekommen. Darum verrate ich jetzt noch etwas, was wirklich zählt. Iris schreibt, das habe ich schon verraten. Das allein wiegt schon schwer genug, weil Iris behauptet, sie könnte nicht schreiben, wenn irgendjemand wüsste, dass sie schreibe. Und wie das heißt, was sie schreibt, hat sie auch mir nur widerwilligst verraten. Es ist ihr innigstes Geheimnis. Aber wozu sind Geheimnisse da, wenn nicht, um verraten zu werden? So weit ist Iris noch nicht. Da bin ich ihr voraus. Und es durchströmt mich ein Glücksgefühl, wenn ich Ihnen verrate, wie das, was Iris schreibt, einmal heißen soll: Das 13. Kapitel .
    Das ist Verrat an sich. Noch mehr Verrat: Immer wieder liegt irgendwo ein Zettel, eine Seite. Iris ist nicht so ordentlich wie ich. Was sie auf Zetteln und Seiten herumliegen lässt, notier ich sofort. Horte es. Das 13. Kapitel auch nur zu erwähnen ist bei uns verboten wie bei Ihnen Herr und Frau Froh. Umso lieber schicke ich Ihnen, was ich von Iris-Zetteln und -Seiten abgeschrieben habe.
Anrufen, wenn es zu spät ist, das ist alles, was man muss.
Welt reimt sich auf Sinn, wie sich Blüte auf Liebe reimt.
Ich fühle, dass in mir immer etwas keimt.
Die Gedanken wandern durch mein Gehirn wie Menschen durch Täler.
Wenn ich einen anderen ablehne, lehne ich mich ab.
Ich liebe nur noch meinen Feind.
Zugeben, dass du jetzt bist, wo du gern mit Verachtung hingeschaut hättest.
Ich neige

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