Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
sogenannten Erwachsenen gäbe und sie selbst auch nie erwachsen werden müssten. Eine reine Utopie. Die reicht sie in München beim Bayerischen Rundfunk ein und wird von einer Frau Reese, die dort das Jugendprogramm leitet, eingeladen. Um 15 Uhr soll sie in der Kantine sein. Um 14 Uhr 30 ist sie dort. Und wartet, bis Frau Reese kommt. Frau Reese kommt erst um halb vier, entschuldigt sich sehr, sie ist mit dem Intendanten in einen Staatsbesuch-Stau geraten.
    Aber inzwischen hat das Schicksal zugeschlagen: Der circa dreißigjährige Architekt Beatus Niederreither hat auch einen Termin im Bayern-Funk, und zwar erst um halb vier. Gewohnt, alles, was vorgeht, mitzukriegen, sieht er, dass da eine junge Frau wartet. Er setzt sich zu ihr und sagt: Sie warten!
    Iris: Genau wie Sie?
    Er: Ich bin zu früh dran, ich warte nicht. Die Überholspur war von Berlin bis München frei. Ich würde niemals warten. Wenn der, mit dem, oder die, mit der ich verabredet bin, nicht da wäre, würde ich sofort gehen. Das rate ich Ihnen auch. Stehen Sie auf, gehen Sie sofort. Ich bitte Sie. So jemanden wie Sie lässt man nicht warten.
    Iris: Ich warte nicht. Ich bin zu früh da. Ich soll erst um drei Uhr da sein.
    Als es drei vorbei ist, fängt er wieder an. Sie dürfe sich das nicht gefallen lassen. Wenn sie es sich jetzt gefallen lasse, werde sie ihr ganzes Leben lang so sitzengelassen wie jetzt.
    Da kommt Frau Reese, begrüßt Iris fast stürmisch, hat ein schlechtes Gewissen und sagt ihr gleich, wie glücklich sie sei, die Schöpferin dieses fabelhaften Haldenhof -Projekts willkommen heißen zu dürfen. Aber Beatus Niederreither mischt sich noch einmal ein: So jemanden lässt man nicht warten.
    Frau Reese: Er habe vollkommen recht, aber sie sei mit dem Intendanten in einen Staatsbesuch-Stau geraten usw.
    Bevor sie mit Iris den Raum verlässt, ruft ihr der Architekt, der ein fast unvermindertes Bairisch spricht, zu, er werde um sechs hier sein und hoffe, sie auch.
    Iris kommt, mit den glücklichsten Abmachungen versehen, kurz vor sechs in die Kantine, der Architekt ist schon da. Dass sie, was sie vorhabe, nicht in Leupolzweiler machen könne, sagt er, sei klar, kurz: Sie kommt mit ihm nach Berlin. Im schwarzen Ferrari. Iris fährt mit, kriegt ein Quartier in Schlachtensee, fängt an zu arbeiten und wird die Freundin des Architekten. Freundin und mehr. Der Architekt ist international erfolgreich. Er erzählt ihr schon auf der Fahrt nach Berlin, dass er die Welt erobern werde mit seiner Vision: Gender Architecture. Dafür sei die Welt gerade jetzt reif, und er sei der, durch den es geschehen soll: Bauten sind entweder weibliche oder männliche Bauten. Ob Shanghai eine Arena oder São Paulo ein Stadion kriege, das entscheide er, wenn er sich an Ort und Stelle eingelebt habe.
    Tatsächlich war er, zehn Jahre nachdem er bei Julián de la Fuente in Venedig noch ragazzo di bottega war, weltberühmt. Iris hat das vier Jahre lang ausgehalten. Und erlitten. Dann hat sie sich selbständig gemacht. Erfolgreich durch ihren Haldenhof , der inzwischen im Vorallgäu angesiedelt und entwickelt worden war. Belebt von den Manuskripten der jungen Autorin Iris Tobler. Die trennte sich von Beatus Niederreither, dem Herrn des Zorns und der Liebe. Und gewann, als sie noch nicht einmal zweiunddreißig war, den Schriftsteller Basil Schlupp als Mann. Beide in Berlin. Mit Niederreither konnte kein Mensch längere Zeit leben.
    Aber wiederum zehn Jahre nach dem Beginn seiner Weltruhm-Zeit wird er krank. MS. Und als er dann nach dem fünften Schub im Rollstuhl landet, verlangt er, ruft er nach Iris Tobler. Und die kommt. Mindestens einmal im Monat muss sie ihn einen Nachmittag lang durch die Stadt schieben. Und zwar, so sein Wunsch beziehungsweise Befehl, immer durch die Stalin-Allee, die jetzt Karl-Marx-Allee heißt. Sein Fahrer bringt ihn zum Strausberger Platz, dort trifft er immer Iris. Er ist immer noch der Herr des Zorns und der Liebe, dazu hat er sich selber ernannt. Jedes Mal, wenn Iris zurückkommt von diesem Ausflug, fangen an die Tage der Wortlosigkeit. Fast immer. Oder: oft. Aber meistens doch bald, nachdem sie aus der Stalin-Allee zurück ist. Der Herr des Zorns und der Liebe nennt die Allee immer noch Stalin-Allee und verkündet das öfter auch laut, während er dort entlanggerollt wird bis zu der Absinth-Bar, wo er seinen Pernod trinkt. Iris muss mittrinken. Angeblich schmeckt ihr dieses Getränk, das ich nur dem Namen nach kenne. Dass man dieser Allee

Weitere Kostenlose Bücher