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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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finde ich, peinlich. Die Liebe zu denen aus Waldshut war ergreifend, auch wenn er der König war, der das Volk besuchte; aber die, die es so weit gebracht haben wie er selber, die kann er nicht lieben. Denen muss er nachsagen, dass sie seine Sehnsucht nach Freundschaft enttäuscht haben. Was waren die aus Waldshut für reiche Naturen, verglichen mit denen, mit denen er jetzt sein Leben verbringen muss. Im besten Fall sind es noch «rührende Leutchen». So nennt er ein Paar, mit dem nur Korbinian und ich gemeint sein können. Beim Mann dieses Paars ist ihm immer aufgefallen, dass er den Nagel des Mittelfingers seiner rechten Hand kürzer geschnitten hat als die Nägel der anderen Finger, und das sagt ihm, dass dieser Mann seine Frau, bevor er mit ihr schläft, immer mit diesem Mittelfinger in Stimmung bringt. Und dieser Freund habe hundert Abende und Nächte lang mit seiner so gepflegten Hand nach der Karaffe gegriffen, habe jedem eingeschenkt, die Zunge gelöst, und jeder habe den schönen Mittelfinger gesehen, jeder habe sich alles denken müssen, aber keiner habe dem, der diesen Mittelfinger so kultivierte, ein Kompliment gemacht oder wenigstens gefragt, zum Beispiel die Frau gefragt, ob dieser Mittelfinger gut sei oder nicht. Er wolle aussteigen aus einer Gesellschaft, in der das Geschlechtliche zur Fremdsprache oder zum Massen-Gaudium verkommen sei. Der Geschlechtsverkehr gehöre natürlich nicht zur Natur, sondern zur Kunst. Und diese Kunst fordere jedes Paar auf, schöpferisch zu sein. Und alle sind dabei so schöpferisch, dass jeder dem anderen jedes Mal sagen kann: So war es noch nie! Und es wird jedes Mal so sein, wie es noch nie war.
    Wer wenig verlangt, will wenig geben. Das ist ein Gesetz!
    Vergiss nie: Die Erregung des anderen ist schöner als die eigene. Er habe von Anfang an abgelehnt, sich so aufzuführen, als habe der Geschlechtsverkehr etwas mit Liebe zu tun. Er ist eine Kunst. Und zwar wie andere Künste auch: eine Kunst um der Kunst willen. Liebe habe mit dem Geschlechtsverkehr so wenig zu tun wie Musik mit der Physik. Vom Geschlechtsteil etwa Charakter zu verlangen sei kulturelle Barbarei. Sein Geschlechtsteil richte sich immer nach der, die gerade da sei.
    Er sei einmal einer Frau hörig geworden, weil sie am Telefon gesagt habe: Wenn du, sobald du hierherkommst, nicht sofort über mich herfällst, musst du gar nicht erst kommen. Er habe nie mit einer Frau geschlafen, die ihn weniger interessierte als die Zeitung von gestern. Was bei einer normalen Frau nach dem Orgasmus abläuft, sei vergleichbar dem, was nach der Landung der B 747 passiert: sobald sie den Grund berührt, das jähe Hochfahren der Landeklappen, das Gegensteuern der Turbinen, überhaupt das gewaltige Bremsen. Übrigens: Männer, die sich vorher ungeheuer unterschieden hätten, glichen sich genau so ungeheuer, wenn sie zu Frauen, die sie nicht mehr lieben, brutal würden. Auch müsse er zugeben, bei den ersten zwei Scheidungen, die er für nötig gehalten habe, habe er geweint und sei von den Frauen, von denen er sich scheiden ließ, getröstet worden. Bei der dritten Scheidung, die auf Wunsch der Frau stattfand, habe er nicht mehr geweint.
    Lügen dürften von ihm nicht erwartet werden, weil den Lügen jeder ansehe, welche Wahrheit darin versteckt werde. Er hätte jeder Zeit die Frau eines Freundes übernehmen oder erobern können, aber noch kein Freund habe sich je an seine Frau getraut. Eine empfindliche Freundin habe ihm vorgeworfen, er sehe Frauen mit einem Viehhändlerblick an. Woraus er schließe, dass er diese Frau zu wenig mit diesem Blick angesehen habe.
    Lieber Freund, diese Frau war ich. Warum ich diese Anpöbelei überhaupt ertrage, weiß ich nicht. Korbinian ertrüge es nicht zu lesen, wie blamabel, wie unsinnig es war, der Freund dieses Mannes sein zu wollen. Viel von dem, was er da auftischt, kennen wir, Korbinian und ich, aus seinen abend- und nachtfüllenden Auftritten. Als ich diese Szenen jetzt las, dachte ich, er habe uns auch als Testpersonen benutzt. An unseren Reaktionen hat er sein Anekdoten-Talent geschult. Zum Beispiel: die zweite Potenz. Jetzt steht da: Aus eigener Erfahrung wisse er, was es bedeute, von der zweiten Potenz abhängig zu sein. Die zweite Potenz, das sei die, deren man sich wirklich erfreuen könne, solange man keinen Gebrauch mache von ihr. Oder die Szene, wie er dem Ober erklärt, er habe einen Schinken bestellt, kross gebraten, aber von Dachpappe habe er nichts gesagt. Und dann dem

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