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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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der nächste Mensch von solcher Abfindung leben muss, was hat dann der Rest der Menschheit von diesem Ego-Midas zu erwarten? Nichts. Nirgends. Sie und Korbinian haben sich lebendig nah geglaubt. Sie fühlten sich geschätzt und mehr. Und Sie schätzten ihn. Und mehr als das. Nicht nur Korbinian. Ich aber behaupte: Sie erleiden durch sein Benehmen, also zuerst das Verschwinden und jetzt dieses Hoch hinaus , Sie erleiden keinen Verlust. Sie verlieren nichts, weil Sie nichts gehabt haben. Außer einer Illusion.
    Verzeihen Sie! So könnte ich an Korbinian nicht schreiben. An Sie, glaube ich, muss ich so schreiben. Das muss man in sich zur Geltung bringen, dass man nichts gehabt hat. Das kann man jetzt wachrufen als Situation, Erfahrung, Gefühl. Dann und dann war das und das, und es war so und so. Und jetzt genau hingefühlt. Dass der immer nur andere brauchte, um sich aufzuführen, das hatten Sie mir doch schon geschildert.
    Liebe Maja, Sie sind zu schade dafür, diesem Effekt-Virtuosen als Publikum zu dienen. Und: Sie haben alles, was ich jetzt heraufbeschwöre, längst gewusst. Ja, sein Rücken-Kraul, sein Muskel-Menu, seine sich überhaupt nicht verselbständigenden Muskulaturen. Das nicht mehr zu sehen, nicht mehr serviert zu bekommen IST ein Verlust. Und Korbinian verliert viel, viel mehr als Sie. Sie müssen tun, was Sie können, dass Korbinian dieses Gleiß-Diktat nicht zu sehen bekommt. Wenn dann später alles lange her ist, wird bekanntlich alles erträglicher. Sie möchte ich jetzt vor Empfindungen bewahren, die an Schmerz grenzen.
    Liebe Maja, lassen Sie mich den Menschenkenner spielen, den es nicht gibt. Und Schmerz, liebe Maja, davon verstehen wir alle gleich viel.
    Lassen Sie mich auch ein bisschen großreden, angeben mit meiner Schmerz-Erfahrung. Mitteilen darf ich die schon. Nämlich: Ich versuchte immer, den Schmerz von seinem Anlass zu lösen. Den Anlass so herunterreden, dass nur noch der Schmerz übrig bleibt. Den dann allerdings streicheln, verzärteln, innig aufnehmen ins Innerste. Vielleicht probieren Sie’s mal. Ich möchte positiv sein. Ich möchte Sie ablenken.
    Liebe Maestra (das sind Sie für mich jetzt doch geworden), ich warte, wenn ich warte, immer auf Sie. Jeder Eintretende ist eine Enttäuschung. Ich sehe, dass ich nicht auf ihn gewartet habe, sondern auf Sie. Ich weiß, dass Sie nicht kommen. Und warte auf Sie. Bei Iris habe ich gelernt, dass das geht, warten auf die, die nicht kommt.
    Gestern habe ich einen Versuch gemacht. Im Café Einstein. Ein belebteres kenne ich nicht. Das ging so: Ich habe nicht gewusst, warum ich ins Einstein ging. Ich kann nicht sagen: Mir war danach. Aber während ich die Friedrichstraße hinaufging und, wie immer, in Gedanken an Sie hinredete, merkte ich, d. h. musste ich mir eingestehen, dass ich Ihretwegen ins Einstein ging. Als ich hinkam, war es zehn vor fünf. Und in mir hatte sich eine Erwartung gebildet: Ich war mit Ihnen verabredet. Im Einstein. Sobald ich diese Erwartung spürte, sagte ich zu mir: Quatsch! So leichtfertig darf ich mir das Enttäuschtwerden nicht zubereiten. Das Café war voll. Aber ich sah sofort das Tischchen, an dem nur ein Stuhl stand. Und der war frei. Alle kommen mindestens zu zweit ins Café. Selbst wo ein Stuhl noch unbesetzt war, war er mit Taschen und Tüten belegt. Ich hätte hingehen sollen und fragen, vorwurfsvoll fragen, ob dieser Stuhl statt Damenhandtaschen und Einkaufstüten nicht eher einen Menschen auf sich Platz nehmen lassen sollte. Einfach seiner Bestimmung nach. Ich war nicht kühn genug. Also saß ich an diesem Tischchen und stellte mir natürlich vor, Sie kämen herein, entdeckten mich, ohne zu suchen, kämen her zu mir, und ich könnte Ihnen keinen Stuhl anbieten! Dass Sie kommen würden, beherrschte mich so, weil ich Ihnen keinen Stuhl anbieten konnte. Klar, hier durfte ich nicht bleiben. Ich winkte dem Ober mit einem Zehn-Euro-Schein. Inzwischen war es zehn nach fünf. Endlich machte der Ober bei mir halt. Haben Sie es so eilig, fragte er. Ich, geistesgegenwärtig, dass ich jemanden erwarte, und hier sei ja nur ein Stuhl am Tisch. Oh, sagte der Ober, griff hinter sich und holte hinter einer Zwischenwand einen Stuhl hervor. Es wirkte, als habe er ihn aus der Luft geholt. Und ließ ihn an meinem Tischchen landen. Er hatte den Stuhl hergezaubert. Jetzt konnte ich wieder durchatmen. Ruhig warten. Das Einstein wird um diese Zeit offenbar von Blondinen bestürmt. Meine Erinnerung an Sie war keine Sekunde lang

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