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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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bleiben zu dürfen, durch nichts beeinträchtigt, durch nichts kompliziert.
    Mein Job ist das Unfassbare. Das Wunderbare. Das Wunder. Unsereiner lernt das mit dem Jüngling von Nain, dem Hauptmann von Kapernaum. Ein Theologe, sagt der Meister, ist ein irreparabel verwunderter Mensch. Ich missbrauche meine Profession, wenn ich mich nicht abhalten kann, in unserer Begegnung das zu sehen, was bei uns ein Konkretissimum der Gnade heißt. Wenigstens ein Zeichen darf ich es doch nennen. Mir ist es wie einem Fluss, der über die Ufer tritt. Dass ich so anfällig bin für das Inkoordinable, habe ich nicht gewusst. Habe ich doch gar nicht wissen können.
    Ich bin eine Spätberufene. Vorher quer durch die Fakultäten. Dann gelandet bei der Wissenschaft, die keine sein dürfte: Theologie. Ich muss schließen. Das Boarding!
    Ihre seltsam fröhliche Davonfliegerin
M. Sch.

    Von meinem iPhone gesendet

19
    16. Oktober 2010
    Liebe Fortfliegerin und gnädige Frau,
    mit dieser Technik-Adresse sind Sie ausgeliefert. Sicher nicht nur mir. Aber ich bin froh, dass, wer auch immer für uns zuständig ist, das Wunder von Tegel geschehen ließ. Zufälle gibt es nicht. Das habe ich hundertmal erlebt und tausendmal gesagt.
    Bitte, bedenken Sie bei Ihrer Auslegung unseres Augenblicks – denn das war es doch –, dass ich drei Tage davor ins Einstein gepilgert bin und dort, weil ich keinen Stuhl für Sie erobert hatte, damit rechnen musste, dass Sie gleich eintreten würden. Da ich dann doch noch einen Stuhl erobert hatte, kamen Sie natürlich nicht. Aber was da ablief, gehört zur Vorbereitung dessen, was auf dem Flughafen geschah. Dazu gehört auch – jetzt, nachdem wir das Schicksal durch Hartnäckigkeit gefügig gemacht haben, kann ich fast alles gestehen –, dazu gehört auch meine Ihnen gewidmete Stadtstreicherei. Jeden zweiten Tag ging ich in die Stadt, setzte mich in ein Hotel-Foyer, setzte mich so, dass ich die Aufzugtüren sah. Aus den Türen kamen andauernd Leute, andauernd gingen Leute hinein. Ich fand es interessant, zuzuschauen, wie Aufzugtüren sich öffnen und schließen, wie Leute ankommen und verschwinden. Und solange sich keine Aufzugtür öffnete oder schloss, beobachtete ich die Szenen im Foyer; versuchte aber nicht, aus Mundbewegungen und Mimik oder Gestik der Menschen zu verstehen, was ich auf die Entfernung nicht hören konnte. Mich füllte aus, anzuschauen, was ich nicht verstand. Das war das Spannende: anzuschauen, ohne verstehen zu wollen. Ich war unabgelenkt von Ihnen, aber nicht aufs pure Warten angewiesen. Sie konnten aus jedem Aufzug erscheinen. Und doch wartete ich nicht direkt auf Sie. Dazu passte es, dass ich zu Hause stundenlang vor dem Fernseher saß, den Ton abstellte und zusah, wie da geredet wurde. Fernsehen mit Ton ermüdet mich nach einer Stunde. Jetzt konnte ich vier oder fünf Stunden sitzen, zuschauen, spüren, wie mich ausfüllt, was ich nicht verstehe. Es lenkte mich nicht von Ihnen ab und beschäftigte mich doch so, dass ich Ihre Abwesenheit nicht so krass spürte.
    Wenn ich alle Aktionen, die ich startete, um Ihre Abwesenheit zu betäuben, zusammenrechne, ist, was in Tegel geschah, kein Zufall, sondern ein Ergebnis, ein höchst fälliges.
    Unangenehm war, wenn Iris mich fragte, wo ich den ganzen Nachmittag gewesen sei. Oder wenn sie hereinkam und sah, dass ich tonlose Fernsehszenen anschaute. Meine Ausreden erkannte sie als Ausreden und sagte dann, ob sie die jeweilige Ausrede für eine gelungene oder weniger gelungene Ausrede halte. Dann konnte ich sagen: Ich übe noch.
    Also. Zufälle gibt es nicht. Was war es dann? Glück! Sie mögen es nennen, wie Sie es nennen müssen. Für mich war es Glück. Und Glück kommt in meinen Lebensbegebenheiten nicht vor. Ihnen zuliebe ergänze ich: normalerweise.
    Werde ich im nächsten Interview gefragt: Was ist Glück?, dann antworte ich: Wenn ich von der Buchmesse zurückfliege und in Tegel durchs Gate 8 hinausgehe, und dann steht in der Schlange zum Gate 9 SIE.
    Jetzt nenne ich Sie mit bisher nicht erlebter Wollust: Gnädige Frau!
    Es grüßt Sie Ihr vom Glück gestreifter
Basil Schlupp

20
    Starnberg, 3. November 2010
    Liebster Freund,
    diese Technik verführt dazu, sie zu benützen. Ich sitze am Bett meines Vaters. Er schläft. Oder tut so, als schlafe er. Ich muss so tun, als glaubte ich, dass er schlafe. Die Perserin hasst mich. Ich muss ihn ihr überlassen.
    Ich glaube, er will es auch.
    Korbinian hat bald seinen großen Tag. Ich muss zu ihm.

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