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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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sein.
    Ich hatte noch, bevor ich sie dort sah, ihre Haare gesehen. In diesem nichtssagenden Menschenmeer diese Erscheinung, dieser Schein. Als sie weg war und als ich weg war, war ich noch gefangen von diesen hellsten, straff über den Kopf gezogenen Haaren. Und ich erinnerte mich daran, wie ich nach dem Bellevue-Abend vergeblich nach einem Ausdruck für diese Haarhelligkeit gesucht hatte. Jetzt, im Tegel’schen Durcheinander, war es plötzlich klar. Ihre Haare sind genau so hell wie die Sonne, wenn sie mittags um zwölf durch einen dünnsten Schleier durchscheint. Der Schleier macht die Sonne farbig. Und eben diese Mittagssonnenfarbe ist die Farbe ihrer Haare. Farbe ist zu viel gesagt. Es ist nichts als Helligkeit. Sonnenlichthell sind ihre Haare. Mit diesem Eindruck fuhr ich heim. Und musste noch einen Eindruck horten. In diesen zweieinhalb Augenblicken: ihr Mund. Durch den Willensanteil an ihrem Mund wird der schöner als ein bloß sich selbst überlassener Naturmund. Und genau nicht zu viel Willensanteil. Diese Nuance Willen, das ist schöner als alles bloß Bloße.
    Ich muss, seit SIE verschwunden ist, Spiegelbegegnungen meiden. Sobald ich mich im Spiegel sehe, egal, ob morgens oder nachts, will sich mir die Erklärung aufdrängen, die ich, solange noch Briefe eintrafen, immer wieder vertrieben habe: Sie, die laut Korbinian ewig aussieht wie neununddreißig, hat mich, den, der zehn Jahre älter aussieht, als er ist, nicht mehr ertragen. Von allen Erklärungen kann ich die am schwersten vertreiben.
    Tegel!
    Das habe ich doch immer gewusst! Aber SIE hat es mich immer wieder vergessen lassen. Wir waren ein Paar, das von dem lebte, was es zur Sprache bringen konnte. Ich habe, was SIE schrieb, erlebt wie sonst noch nichts Geschriebenes. Und ich hatte jedes Mal, wenn ich IHR geschrieben hatte, das Gefühl, ich sei meiner Bestimmung gerecht geworden. Dieses Gefühl bedurfte immer wieder der Wiederbelebung. Durch einen weiteren Brief. Das war eine Epoche der Einfalt.
    Meine Berufsbezeichnung: Illusionist.
    Der eingebildete Gesunde. Unheilbar.
    Das Warum tut zwar einmal so, als gebe es nach, als sei es müde, könne einfach auf alles verzichten, aber dann, wenn mir wieder einmal auf meine schon gar nicht mehr ernst gemeinte Frage vom Apparat geantwortet wurde: Keine Objekte, auf einmal fährt das gerade noch dahindämmernde Warum hoch, bäumt sich auf, kriegt eine innerste Lautstärke und Bewegungsschärfe, wird eine nichts als beißende Gewalt und will von mir jetzt sofort beantwortet werden, oder ich werde hinabgestoßen in etwas, was ich Hölle nennen werde. Das heißt: jetzt dem Warum eine Antwort hingeschrien oder -geflüstert, ja, auch geflüstert darf sie sein, meine Antwort. Aber es muss jetzt eine sein. Kein Ausweichen mehr ist denkbar. Also: Warum ist SIE verschwunden? Und tatsächlich, die Antwort kommt wie von selbst. Und wenn sie kommt, ist schon klar, warum ich sie so lange nicht zugelassen habe. Die Antwort heißt: SIE ist verschwunden, weil sie dich nicht liebt.
    Da ist schon zu viel WEIL und WARUM drin.
    Fragen ausgeschlossen.
    Staunen vielleicht. Dass SIE sich nicht fragt, was ich denke. Von Woche zu Woche.
    Muss SIE nicht.
    Die in der Leere hängende Brücke?
    Die Hoffnung auf keine Hoffnung hin?
    Andererseits nimmt ihre Abwesenheit zu. Sie fehlt mir mehr jeden Tag. Aber jedes Mal, wenn ich an einem Spiegel vorbeikomme, bin ich sofort durchstürmt von Zustimmung zu ihrem Schweigen und Verschwinden. Zugegeben, ich hätte es nicht geschafft, uns glimpflich zu beenden. Irgendeinen unsäglichen Wirrwarr hätte ich angerichtet. SIE hat uns davon erlöst. Sobald ich sehe, wie ich aussehe, bin ich dankbar für ihre Art, uns zu beenden.
    Ich bin so weit: Es darf nichts mehr kommen von IHR. Das sage ich jeden Tag, bevor ich den PC einschalte, um zu sehen, ob eine Nachricht gekommen sei. Natürlich ist dann wieder keine Nachricht da.
    Sofort tu ich so, als könne ich froh sein, dass keine Nachricht da ist. Und horche hinein in mich wie in eine vor Dunkelheit endlose Höhle und durchsuche diese Dunkelheit nach Resten, die traurig sein wollen wegen der Nachrichtenlosigkeit. Diese Reste muss ich zerreiben. Und auch wenn ich mich dabei ertappe, dass ich nur so tue, als ob ich froh sein könne über die Nachrichtenlosigkeit, spüre ich: Wenn man lange genug so tut als ob, wird daraus etwas, was man als ein Als-ob geschafft hat.
    Diese Unfähigkeit, mich zu bewegen, weil ich weiß, ich kann IHR durch keine Bewegung

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