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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Ihnen unter dieser alles beherrschenden Weisung geschrieben habe, ist nicht zu bestreiten. Nur – und das ist auch eine Frage des Stils –, die Zurechnungsfähigkeit eines Schriftstellers, die Wahrheit des von ihm Geschriebenen, ist umso größer, je mehr er sich gegen die Generalanweisung, höflich zu sein, durchsetzt als der, der er eigentlich ist.
    Ich glaube, dass es da eine Spannung gibt, die bei Theologen genau so existiert wie bei Schriftstellern oder Politikern oder Lehrern usw. Die Spannung zwischen dem, was von dir erwartet werden darf, und dem, was du über diese Erwartung hinaus oder gegen diese Erwartung lieferst. Die Welt entspricht uns nicht, habe ich gelesen, wir sollen ihr entsprechen. Ich habe ein Leben lang dieses Gebot, entsprechen zu müssen, ertragen und erfüllt. Und die Umwelt hat mich immer danach beurteilt, wie sehr oder wie wenig ich dem entsprochen habe, was sie von mir erwartet hat. Schränken wir das jetzt ein auf den Umgang mit Frauen: Da war ich also ein erotischer Opportunist. Immer bemüht, es recht zu machen. Auf jeden Fall es eher den Frauen recht zu machen als mir. Auch mir ist klar, dass man so etwas nie aussprechen dürfte. Man macht sich dadurch unmöglich ein für alle Mal.
    Das zu erfahren hat Sie verletzt. Lassen Sie mich aber das Entsprechenmüssen noch einmal, und zwar auf Sie und mich, anwenden.
    Ich sah Sie und war verloren. Wie Ihnen näher kommen über den Gesellschaftsabgrund hinweg? Ich musste mich bemerkbar machen, mich ein bisschen danebenbenehmen, Ihnen auffallen. Ihnen, einer Frau, von der ich nichts wusste, als was ich sah. Dieses Kostüm, italienisch, diese an blühenden Ohrläppchen funkelnden Clips, von denen es silbern herunterregnete, diese Haare, ja diese Haarfarbe, diese Frisur, das war das Deutlichste, dieser Wille zu einer einmaligen Haarfarbe und zu einer ebenso einmaligen Frisur: nach hinten gequälte Haare. Und hat dem Mann für seine Rede ein Heidegger-Zitat geliefert. Und ist eine Theologin. Wie falle ich der auf?
    Ich wollte Ihnen sofort entsprechen, wie noch nie jemand Ihnen entsprochen haben kann. Nicht bloß durch Entgegenkommen und Erwartungserfüllung, sondern auch durch das Gegenteil. Kein Plan. Sich gehen lassen. Es darauf ankommen lassen. Der, der sich da produzierte, war nicht ich. Das war der wild gewordene Wille, Ihnen aufzufallen, Sie zum Herschauen zu bewegen. Wahrgenommen werden, das war, was ich wollte. Das ist nicht gelungen. Also ein Brief! Eine Zustimmungsorgie. Das tue ich immer. Aber nicht immer gleich rückhaltlos, gleich bedenkenlos, gleich extrem. Man kann das Lügen nennen, weil mich Wahrheit, wenn ich gefallen oder auffallen will, nicht interessiert. Das passiert von selbst. Immer. Ich liefere mich Ihnen jetzt noch vollends aus.
    Wenn ich etwas nicht für richtig halte, fällt mir sofort auf, dass ich nicht weiß, wie man es besser machen könnte, also stimme ich dem, was ich nicht für richtig halte, zu. Immer mit einem hoch entwickelten Instinkt für das Gefallen. Ich bin gefallsüchtig. Wahrscheinlich der gefallsüchtigste Mensch, den es zur Zeit gibt. Und was eine Sucht vermag, wissen Sie. Wenn ich öffentlich gestehen würde, dass alles, was ich sage und schreibe, nur der Gefallsucht entspringt, wäre ich sofort erledigt. Als Intellektueller, als Schriftsteller. Und wie sich jetzt herausstellt, auch als Mann.
    Mich könnte beruhigen – tut es aber nicht –, dass ich unter Intellektuellen kein Sonderfall bin. Auch die, die auf alles, was ist und geschieht, mit vernichtender Kritik antworten, tun das, um zu gefallen. (Mein Feind lässt am Horizont die Waffen blitzen. Ich tu so, als sähe ich sie nicht.) Man tut uns unrecht, wenn man glaubt, wir wollten etwas besser machen, als es ist. Uns ist alles recht, so wie es ist. Wir liefern zustimmende oder vernichtende Hymnen. Und jeder von uns wird durch seine Art Gefallsucht deformiert. Ich weiß allerdings nicht mehr, was zuerst da war: die Gefallsucht oder die Deformation, die uns gefallsüchtig macht. Wahrscheinlich produziert eins immer das andere. Eine zunehmende, alles diktierende Mimikry.
    Iris z.B. sagt mir, wenn sie ins Zimmer kommt, während ich telefoniere, mit wem ich telefoniert habe. Sie sagt, das gehe bis in die Sprachfarbe hinein. Mit einem Sachsen färbe ich sächsisch, mit einem Kölner kölnsch. Und auch im Sprachstil, im Niveau des Satzbaus und der Wörter, bin ich, sagt sie, eine Kopie des Anrufers. Iris streichelt mich dann. Sie spürt die Armut

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