Das dritte Leben
kleinen Jakob. Aber das wird schon noch. Bestimmt.«
Er erhob sich. »Warten Sie, ich hol' mal die Bilder.«
Fotos. Ein ganzes Album voll.
Renate blieb fast das Herz stehen. Alexa Berglund. Ein Bild in Postkartengröße.
»Voriges Jahr aufgenommen!« sagte Irmens stolz.
Eine Frau wie ein Filmstar. Schwarzes Haar, modisch, halbkurz, riesige Augen, hell, lidumschattet, ein voller sinnlicher Mund.
Wie schön war sie. Und wie kalt.
Ihr Alter sah man Alexa nicht an. Nach dem Foto hätte man sie für eine Achtundzwanzigjährige halten können.
Haß flackerte in Renate auf. Doch sie bezwang sich. »In Berlin leben sie?« fragte sie beiläufig.
»Ja, in Zehlendorf. Kantallee 34. Schönes Haus, hat sich der Reinhard vor drei Jahren gebaut. Mit Schwimmbad für die Jungs. Reinhard ist der bekannte Strafverteidiger, wissen Sie doch, oder nicht? Ach ja, Sie sagten ja, Ihre Mutter …«
Stolz zeigte er die Bilder von den Jungs. Dann Reinhard Berglund. In Uniform. Eisernes Kreuz. Deutsches Kreuz in Gold. Verwundetenabzeichen und eine Reihe Orden, die Renate nicht kannte. Sah fast so gut aus wie Richard. Er hieß Berglund. Aber auch er war nicht ihr Vater.
Renate stand auf. Plötzlich, ohne ein Wort.
Der alte Bauer blickte auf. Seine Augenbrauen zuckten.
»Was ist denn, junges Fräulein?«
»Ich glaube, ich muß jetzt gehen.«
Irmens öffnete verblüfft den Mund. Hallig sah Renate überrascht an.
»Ja, ich muß gehen.«
»Nu, wieso denn?« fragte Irmens.
»Ich dachte, Sie wollten hier etwas aufklären?« meldete sich Hallig zu Wort.
»Das habe ich schon getan.«
Stille fiel zwischen die drei Menschen.
»Aufklären?« fragte Irmens nach einer Weile, und die weichen Linien in seinem Gesicht waren mit einemmal weggewischt.
Renate sah ihn fest an. »Ja, ich mußte aufklären, ob diese Alexa noch lebt.«
Sie wußte, es war töricht, was sie tat. Sie wußte, sie gab vielleicht alle Trümpfe aus der Hand, aber sie konnte nicht anders. Es trieb sie, es drängte sie, es mußte aus ihr heraus.
»Diese Alexa …«, sagte Irmens. Seine Augen wurden kalt. »Wie sprechen Sie denn von meiner Nichte?«
»Ich mußte erfahren, ob sie noch lebt und wo sie lebt.«
»So.« Irmens erhob sich. »Und weshalb ist das so wichtig und so dringend, junges Fräulein?«
Hallig sah verwirrt von einem zum anderen. Aber seine Augen waren hellwach.
»Weil ich sie sehen muß.«
»Sie müssen Alexa sehen?« Irmens stemmte die Hände auf den Tisch und reckte den Kopf vor. »Und weshalb, wenn ich fragen darf?«
»Sie ist meine Mutter. Ich bin ein außereheliches Kind. Sie hat mich am 17. Juni 1944 in Marienburg geboren. Und dann hat sie mich auf der Flucht aus Ostpreußen weggegeben. An eine andere. An meine … an Hilde Gertner.«
Es war raus aus ihr. Alles war raus. Vor diesen fremden Menschen. Sie öffnete die Handtasche, warf die Fotokopien der beiden Briefe und ihrer Geburtsurkunde auf den Tisch.
Irmens tastete sich schwerfällig zu dem niedrigen Nußbaumbüffet an der Wand, kramte in der Schublade, brachte eine stahlgefaßte Lesebrille zum Vorschein. Kam zum Tisch zurück, setzte sich, schweratmend, als wäre er zehn Meilen gelaufen, schob die Brille auf die Nase, nahm die Briefe.
Mit einemmal sah er alt aus, viel älter als seine Jahre. Seine Lippen bewegten sich beim Lesen.
Der junge Hallig schaute Renate an, dann Irmens, reckte den Kopf vor, um mitlesen zu können.
Der Bauer blickte auf. Sah Hallig nur an. Dieser wurde rot, zog seinen Kopf ein.
Schließlich legte Irmens die Briefe auf den Tisch zurück. Renate steckte die Fotokopien wieder in ihre Tasche.
»Wenn ich geahnt hätte, was Sie von mir wollten«, murmelte der alte Bauer, »Sie hätten nie die Adresse von mir bekommen.« Er sah Renate an, wich dann jedoch ihrem Blick aus. »Warum, nach so vielen Jahren? Was wollen Sie jetzt von Alexa?«
»Sie ist meine Mutter.«
»Ja.« Ein dumpfes, schwer geseufztes Wort.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Renate.
»Ich bringe Sie zum Bahnhof zurück«, rief Hallig und sprang auf.
Der alte Bauer blieb sitzen. Starrte vor sich hin. »Die Jungs«, murmelte er, »meine armen Jungs.«
»Und ich?« schrie Renate plötzlich außer sich. »Und ich? Haben Sie denn für mich kein Wort, kein Verständnis?«
Irmens' Wangen färbten sich dunkelrot. Er griff nach dem Schnapsglas, kippte es in einem Zug.
»Viel Glück«, sagte er, ohne Renate anzusehen. »Aber dieses Glück sollen Sie nicht bei dem finden, was Sie vorhaben! Fahren Sie zu
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