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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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mit großen, fragenden Augen, einen zerknautschten Teddybär im Arm, auf dem Boden. Richard hob es auf, drückte es stumm an sich. Tränen liefen ihm über die Bartstoppeln.
    Dann flüsterte er: »Sabine? Sabine, dein Vater ist zurückgekommen!«
    Wie hätte sie es ihm da sagen können? Wie hätte sie es ihm je sagen können?
    Was soll ich tun? Was soll ich nur tun?
    Sie ging ins Wohnzimmer hinüber, zu dem niedrigen Barschrank. Öffnete ihn, nahm die Flasche Armagnac heraus.
    Nur einen kleinen Schluck. Wie an jedem Morgen, seitdem alles so war.
    Nur einen einzigen. Sie füllte das Glas. Randvoll. Nippte, trank dann in Schlucken, hustete dumpf. Aber es tat gut.
    Früher hatte sie nie getrunken. Mal ein Glas Bowle am Abend, mal ein Bier.
    Jetzt trank sie jeden Morgen Armagnac. Aber der Kummer und die Sorgen, die Schuldgefühle und die Angst ließen sich nicht vertreiben.
    »Sag mal, hast du je den Namen Berglund gehört?« fragte der junge Eisenbahner seinen älteren Kollegen. Der nahm die Kappe ab, kratze sich hinter dem Ohr. »Berglund?« Er kniff die Augen zusammen, sah das Mädchen, das nun nicht mehr Sabine, sondern eigentlich Renate hieß, neugierig, aber auch ein wenig argwöhnisch an. »Berglund?« Er schüttelte langsam den Kopf.
    Es zog auf dem Bahnsteig. Wind wehte Schnee vom Damm herüber.
    »Aber Frau Berglund war hier nach dem Krieg! Und ihr Mann ist damals aus amerikanischer Gefangenschaft hierher entlassen worden. Er war lange vermißt gewesen.«
    »Ach – der!« rief der alte Eisenbahner, ja, er erinnerte sich. »Warten Sie mal, ja natürlich, Berglund hieß der! Hat an dem Abend den ganzen Goldenen Hirsch freigehalten. Berglund. War Hauptmann. Strammer Kerl! Ja! Aber an die Frau – nee, Mädchen, da kann ich mich nicht dran erinnern.«
    »Aber wo haben die Berglunds denn gewohnt? Sie kam aus Danzig und hat hier bei Bauern gearbeitet.«
    »Ja …« Der alte Eisenbahner kramte sichtlich in seinem Gedächtnis. »Ja. Ich glaub', das war bei den Irmens.«
    »Irmens?«
    »Ja. Jakob Irmens. Ist nicht der größte, aber vielleicht der zweitgrößte Bauer am Ort. Hat ein paar stramme Töchter.« Er sah seinen jüngeren Kollegen listig an. Der wurde rot. »Oller Quatschkopp!« sagte er und trat in das Wärterhaus.
    »Gehen Sie mal zum Jakob. Da war's, wenn ich mich recht entsinne.«
    Renate nahm den Koffer auf. »Schönen Dank. Und kann ich hier ein Taxi bekommen?«
    »Wenn Sie Glück haben, steht draußen noch eins.«
    Sie hatte kein Glück. Es gab kein Taxi. Sie stand zögernd in der Kälte.
    Ein Wagen hielt am Bordstein. Ein junger Mann stieg aus. Ging in den Bahnhof. Kam mit Zeitungen unterm Arm wieder raus.
    Renate nahm ihren Koffer auf. »Ach – entschuldigen Sie …«
    Der junge Mann blickte auf. Erstaunen zeigte sich einen Moment lang in seinen Augen; wich dann aber freundlicher Aufmerksamkeit. »Ja, bitte?«
    »Könnten Sie mich ein Stück mitnehmen … In den Ort?«
    »Aber gern.« Der junge Mann lachte.
    »Es ist kein Taxi da, sonst –«
    »Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich bei dem Sauwetter!« Er wurde ein wenig rot, half Renate dann schnell in seinen Wagen, einen alten Opel. »Sieht aus wie ein Leichenwagen, fährt aber noch wie eine Eins!«
    Sie lachte.
    Der junge Mann hatte braunes Haar. Ein scharfgeschnittenes Gesicht, braungebrannt. War wohl schon Ski gelaufen. Hellgraue, wache Augen. Einen vollen Mund.
    Renate registrierte es, wie jedes Mädchen es registrieren würde.
    »Wo wollen Sie denn hin?« fragte er, als sie anfuhren.
    »Zum Bauer Irmens.«
    »Da wohne ich. In Pension. Duftes Essen. Muß aufpassen, daß ich mir hier keine Wampe zulege.« Der junge Mann lachte.
    Schnee wehte ihnen entgegen, verhüllte die Straße. Grau wölbte sich der Himmel. Schwarze Strünke die Bäume.
    Die letzten Häuser. Geduckt hinter Hecken. Rote Dächer unter grauverschmutztem Schnee.
    »Noch drei Kilometer«, sagte der junge Mann. Und dann: »Übrigens, ich heiße Hellmut Hallig. Wie eine Hallig, so 'ne Insel in der Nordsee, wissen Sie.« Er lachte wieder.
    »Meine Mutter hat mal bei Irmens gewohnt«, sagte Renate. »Ich heiße – Sabine.«
    Er blickte sie flüchtig an. Registrierte: schmal, ernst.
    »Ich suche hier Material«, sagte er. »Bin von Beruf Materialsammler.«
    »Altmetall?« frage Renate spöttisch.
    »Erraten. Altmetall, Lumpen, Klamotten und Papier.«
    Er räusperte sich. »Ich bin Reporter.« Er wurde wieder rot. »Das heißt, ich werde es eigentlich noch. Ich bin

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