Das dritte Leben
Ihrer – Mutter, zu Hilde zurück. Lassen Sie doch die Menschen in Frieden.« Er erhob sich schwerfällig. »Wir sind doch alle nur Menschen«, murmelte er.
Renate drehte sich um, ging zur Tür. Öffnete sie, ehe Hallig da war, lief nach draußen.
Nicht viel später saßen sie im Auto.
»Zum Bahnhof?« fragte Hallig.
Er zuckte zusammen, als er das Schluchzen neben sich hörte. »Bitte«, sagte er, »ich kann keine Frau weinen hören. Bitte nicht.«
Renate schlug die Hände vors Gesicht. »Kein Wort hatte er für mich. Nur an seine verdammten Lümmel in Berlin dachte er. An seinen Jakob und seinen Hartmut!«
»Er ist ein Bauer, ein Dickschädel, der nur bis zum nächsten Kirchturm sieht. Er hat das alles noch nicht verkraftet, was Sie ihm da erzählt haben. Mein Gott, ich selbst kann es ja noch nicht einmal fassen.«
»Fahren Sie«, sagte Renate. »Bitte.«
Er fuhr bis zum Tor. Dann hielt er wieder. »Wo wollen Sie denn nun hin?« fragte er. »Was wollen Sie tun?«
»Ich reise nach Berlin«, sagte Renate entschlossen.
»Aber nicht allein! Ich fahre Sie hin!« Hallig wußte nicht, woher er die Kühnheit nahm, aber er konnte dieses Mädchen nicht sich selbst überlassen.
»Aber Ihre Story? Ihre Redaktion in Nürnberg?«
»Werde ich schon machen!«
Renate sah ihn an. Sie sah ihn zum ersten Mal richtig. Sie preßte seine Hand.
»Darf ich es?« fragte er. »Darf ich Sie nach Berlin bringen?«
»Ja«, antwortete sie, »bringen Sie mich nach Berlin.«
»Warten Sie, ich bin gleich zurück.«
Das Schreiben fiel ihm schwer. Er hatte eine grobe ungelenke Hand, gewohnt, mit dem Vieh und dem Trecker umzugehen. Auch noch mit der Flinte. Aber Schreiben, das war eine harte Sache.
Irmens saß am blankgescheuerten Wohnzimmertisch und schrieb in seiner steilen, schrägen Sütterlinschrift: »Liebe Alexa …«
Wie sollte er nur anfangen?
Was Alexa getan hatte, war ein Verbrechen. Ein Verbrechen an ihrem Kind, diesem Mädchen.
Aber das war vor mehr als zwanzig Jahren geschehen. Das Leben war seitdem weitergegangen. Und jetzt galt es, eine Familie zu schützen. Reinhard, die beiden Jungs. Und auch – Alexa.
Warnen mußte er sie. Aber es war schwer, verflucht schwer.
Er stand auf, trat ans Fenster. Draußen wirbelte der Schnee Geisterfiguren in den frühen Abend.
Der junge Spund fuhr mit dem Mädchen nach Berlin. Hatte es ihm auch noch unter die Nase gerieben, als er seine Rechnung für die Pension bezahlte und seinen Koffer aus dem Zimmer holte.
War ja eigentlich sinnlos zu schreiben. Spätestens morgen waren die beiden in Berlin.
Natürlich telefonieren. Warum kam ihm erst jetzt der Gedanke? Er war so verwirrt gewesen, daß er vorher nicht daran gedacht hatte.
Ferngespräch nach Berlin. Nummer 912.678. Besetzt. Er versuchte es eine halbe Stunde lang. Vergeblich.
Dann schrieb er doch den Brief. Eilboten. Einschreiben. Persönlich. Ließ ihn von der Magd mit dem Moped zur Post bringen.
Würde Alexa ihn früh genug bekommen?
Später versuchte er noch mal anzurufen. Ich muß durchkommen. Ich muß einfach.
Irmens setzte sich mit der Steinhägerflasche neben das Telefon. Die Dunkelheit kam und mit ihr die Gedanken.
Wer hätte das geahnt? Alexa. Seine Alexa. Seine Nichte, die er genauso liebte wie seine Töchter.
Ein außereheliches Kind.
Er trank. »Verdammte Welt, in der wir leben!« flüsterte er.
Oldenburg. Bremen. Verden an der Aller. Städte im Winterdunst. Dunkelheit hüllte sie ein.
Schneetreiben. Glatteis. Grelle Scheinwerfer bohrten sich in ihre Augen. Vorbei.
»Warum tun Sie das?« fragte Renate.
Hellmut Hallig hob die Schultern. Er lächelte. »Einfach so.«
»Was heißt das?«
»Sie brauchen jemanden«, sagte er. »Und weil Sie –« er räusperte sich. »Schauen Sie mal nach, ob im Radio Musik ist«, sagte er und tastete in seiner Jackettasche nach den Zigaretten.
Renate schaltete das Gerät ein. Musik von Radio Bremen.
»Einer wird kommen …«, sang eine seidenweiche Frauenstimme das Lied aus dem ›Zarewitsch‹.
Renate spürte plötzlich die Tränen heiß in ihren Augen. Einer wird kommen. Aber sie war allein. Ganz allein. Hatte niemanden mehr. Keinen Vater, keine Mutter, niemanden.
Hallig zündete sich seine Zigarette an. »Sie müssen es nicht so ernst nehmen«, sagte er.
Sie biß die Zähne zusammen.
»Hören Sie, ich bringe Sie nach Berlin. Und ich bleibe bei Ihnen, bis – nun, bis sich alles geklärt hat. Ich will nicht, daß Sie Dummheiten machen.«
»Seien Sie doch
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