Das dritte Leben
der Straßenlaternen flackerte auf. Neonleuchten warfen bunte Blitze. Scheinwerfer vorüberhuschender Autos verwandelten den nassen Asphalt in einen schwarzen, glitzernden Spiegel.
Der Spiegel meines Lebens. Ich werde ihn in den Augen meiner Tochter sehen.
»Dombrowskistraße«, sagte der Fahrer.
Das Haus Nummer 71 lag etwas zurück, hinter einem Vorgarten. Es war ein altes Haus aus der Vorkriegszeit, villenähnlich, eine Vorzugswohnung für bevorzugte Bürger des Staates.
Und Jan Wolzcek war ein bevorzugter Bürger. Zum mindesten seit dem Wandel in Polen, seit dem ›Tauwetter‹ des Jahres 1956.
Vorher war er in Ungnade gefallen, weil ihm die Härte des kommunistischen Regimes nicht behagt hatte. Vorher hatte man ihm auch den Lehrstuhl für Germanistik entzogen.
Jetzt war er in Pension, lebte nur noch für seine eigenen privaten Studien – und für seine kleine Familie, seine Frau Nadja und seine Tochter Sanja.
Kies knirschte unter Richards Füßen, als er auf das Haus zuschritt. Er klingelte. Schritte näherten sich. Die Tür wurde mit Schwung geöffnet.
Ein großer alter Herr stand da, schlank, mit silberweißem Haar, einem schmalen Gesicht.
Richard hätte ihn für einen Engländer gehalten, wenn er ihm an einem anderen Ort begegnet wäre.
»Ich bin Richard Gertner.«
»Kommen Sie herein. Seien Sie gegrüßt.« Wolzcek nahm seine Hand mit festem Druck.
Seine Augen hielten Richards Blick gefangen. Es waren helle braungelbe Augen, in denen sich natürliche Höflichkeit, abwartende Zurückhaltung, Gastfreundschaft und Vorsicht miteinander mischten.
Richard betrat die kleine Diele, legte Mantel und Hut ab. Professor Wolzcek führte ihn in einen Raum rechts von der Diele, dessen Wände bis zur Decke mit Bücherregalen verstellt waren.
»Meine Bibliothek«, sagte der Professor stolz.
Von Voltaire über Balzac bis Sartre, von Tolstoi über Gorki bis Pasternak, von Melville über London bis Hemingway, von Goethe über Thomas Mann bis Heinrich Böll war in Leder-, Leinen- und bescheidenen Kartonrücken alles vertreten, was in der Literatur Rang und Namen hat.
»Bitte!«
Sie setzten sich in zwei Sessel, die einen schmalen lederüberzogenen Tisch unter dem Fenster flankierten.
Professor Wolzcek zupfte an seinem braunen Samtjackett, das er über einem schwarzen hochgeknöpften Wollhemd trug.
»Der Tee wird gleich kommen. Darf ich Ihnen inzwischen ein Gläschen Wodka oder Cognac offerieren?«
Richard schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Für mich nur Tee bitte.«
Wolzcek lehnte sich zurück. »Sie sind also der Vater von Sanja«, sagte er.
»Ja«, antwortete Richard. Sie sahen sich lange stumm an.
»Es würde uns sehr weh tun, Sanja zu verlieren«, sagte der Professor schließlich.
Richard erwiderte nichts. Konnte es nicht.
Die Tür öffnete sich, und eine dralle pausbackige Frau trat ein, ein Tablett in den Händen.
Richard erhob sich.
»Meine Frau«, sagte Wolzcek, der ebenfalls aufgestanden war und seiner Frau das Tablett abnahm.
Nadja Wolzcek reichte dem Professor nur bis zur Brust. Ihre Augen musterten Richard mit der gleichen Intensität, mit der Professor Wolzcek es getan hatte.
»Bitte, setzen Sie sich doch, und lassen Sie sich den Tee gut munden!«
Lächelnd ging sie zur Tür, ließ die beiden Männer wieder allein.
»Meine Frau hat geweint«, sagte Professor Wolzcek. »Meine Frau hat die ganze Nacht über geweint nach Ihrem Telefonanruf. Aber ich habe mit ihr gesprochen, und sie hat verstanden, daß Sie als Sanjas Vater ein Recht darauf haben, zu uns zu kommen und sie kennenzulernen.«
»Es tut mir leid«, murmelte Richard. Er vermochte es nicht, Wolzcek in die Augen zu sehen.
»Bitte!« Der Professor goß ihm den Tee ein.
Sie tranken. Der Tee war stark, heiß und süß.
»Sie werden wissen wollen, was Sanja tut, was sie für ein Mensch ist.« Wolzcek lächelte wehmütig. »Sie können stolz auf sie sein. Sie ist das intelligenteste Mädchen ihres Semesters. Sie studiert Germanistik, Geschichte und Sozialwissenschaften. Sie ist auch eine großartige Sportlerin. Im vergangenen Jahr gehörte sie zur Stadtauswahl von Danzig bei den polnischen Sportfestspielen in Warschau. Sie ist kerngesund. Und – sie ist sehr hübsch. Die jungen Männer – die machen mir direkt Sorgen!« Er lachte leise. »Sie ist ja schon dreiundzwanzig, unsere Sanja. Doch bisher hat sie noch keinen festen Freund gehabt. Sie ist manchmal ein richtiges Hausheimchen. Sitzt am liebsten hier, wenn sie nicht auf
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