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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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scharf umrissene Blöcke im verwaschenen Weiß des Schnees.
    Die Maschine setzte mit einem rumpelnden Hüpfer auf, rollte aus.
    Richard war als einer der ersten auf der Gangway. Er lief die Treppe hinunter. Der Wind peitschte sein Gesicht. Er mußte seinen Hut festhalten, damit er ihm nicht wegflog. Mit der anderen Hand hielt er seinen Wochenendkoffer umklammert, einziges Gepäckstück, das er bei seinem eiligen Aufbruch von Berlin mitgenommen hatte.
    Die Formalitäten im Flughafen waren schnell erledigt. Noch einmal Ausweiskontrolle, ein kaum merkliches Heben der Augenbrauen beim Sichten des westdeutschen Passes, aber der Blick des Beamten war freundlich, wenn auch etwas verwundert.
    »Guten Aufenthalt«, sagte er in makellosem Deutsch.
    »Danke.«
    Draußen plötzlich Schneegestöber. Ein Taxi glitt heran. »Ins Baltic-Hotel«, wies Richard den Fahrer an.
    Auch dieser antwortete auf deutsch: »Ja, bitte, der Herr.«
    Und dann die unvermeidliche Frage: »Sie sind aus Deutschland – Ost oder West?«
    »West.«
    Der Fahrer begann zu grinsen. »Kommt selten vor.«
    Richard hob die Schultern.
    »Geschäftlich hier?« Ein musternder Blick im Rückspiegel.
    »Nein, privat.«
    »Keine Nylons dabei, amerikanische Zigaretten?« fragte der Taxifahrer.
    »Tut mir leid, nein.«
    »Schade.«
    Und damit schien er jedes Interesse an Richard verloren zu haben. In schneller Fahrt brachte er ihn zum Baltic-Hotel, einem Neubau im Zentrum der Stadt.
    Erinnerungen drängten sich Richard auf, ließen sich nicht mehr zurückhalten.
    Dort die Tilsiter Gasse, wo er mit Hilde an dem kurzen Wochenende nach ihrer Hochzeit gewohnt hatte. Dort hinten das Goldener-Hirsch-Lokal, von den Polen genauso wieder aufgebaut, wie es einmal gewesen war. Hier hatten sie Aal in Dillsauce mit Dampfkartoffeln gegessen, ohne Marken abgeben zu müssen. Der alte Kellner hatte nur gelächelt.
    »Ein Hochzeitspaar.« Er hatte den Kopf geschüttelt. »Woher nehmt ihr jungen Leute in dieser Zeit den Mut?«
    Nachher waren sie durch die alten Straßen gebummelt und dann zu Bett gegangen.
    Und in jener Nacht war es geschehen. Hier in Danzig war Sabines Heimat. Hier hatte Hilde sie empfangen – und hier hatte sie das Kind auch verloren.
    »Baltic-Hotel, der Herr.«
    Richard bezahlte den Fahrer, stieg aus. Schnee trieb ihm ins Gesicht. Endete dieser Winter nie?
    Er stapfte zum Hoteleingang hinüber.
    Schwarzes Menschengewimmel auf den Straßen. Hastende, drängende Passanten. Brodelnder Verkehr.
    Danzig lebte, auch wenn es damals gestorben war.
    Er bekam ein Zimmer im fünften Stock, mit Blick auf den Fluß. Eisschollen trieben darauf. Möwen hingen wie Spieltiere an unsichtbaren Drahtseilen über dem Wasser.
    Richard duschte, zog frische Unterwäsche an, streifte ein frisches Hemd über, rief die Nummer 3 34 57 an.
    Es war genau drei Uhr nachmittags. Erste Schatten der frühen Dunkelheit legten sich über die Stadt und das Meer.
    »Wolzcek«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
    »Gertner. – Ich bin hier, in Danzig.«
    »Willkommen, Herr Gertner.« Die Stimme des alten Professors mit dem schweren Akzent klang genauso erregt wie Richards Stimme. »Ich erwarte Sie bei mir.«
    »Wann soll ich kommen?«
    »Zu jeder Zeit.«
    »Wann kommt – Sabine?«
    »Sanja? Sie kommt um fünf aus dem Kolleg.«
    »Ich komme gleich rüber.«
    »Bis nachher.«
    »Bis gleich, Herr Professor.«
    Richard legte auf. Er mußte seine schweißnassen Hände am Taschentuch abreiben.
    In zwei Stunden würde er Sabine gegenüberstehen, seiner Tochter. Was würde geschehen?
    Noch wußte sie nichts, ahnte nichts. Das hatten Wolzcek und er in einem langen Telefongespräch ausgemacht, das er von Warschau aus geführt hatte.
    Jan Wolzcek. Er hatte Sabine gerettet, hatte sie aufgezogen, war ihr Vater.
    Und er war gekommen, um diesem Vater sein Kind zu nehmen.
    Richard ging zu seinem Wochenendkoffer, nahm die Reiseflasche mit dem Bourbon heraus, goß den Silberbecher randvoll, trank ihn in einem Zug leer.
    Er trat ans Fenster, sah hinaus auf das graue, fließende Metallband des Flusses. Er schraubte den Becher wieder auf, verstaute die Reiseflasche im Koffer, ging nach unten.
    Im Taxi dachte er: In zwei Stunden wird sich alles entscheiden. In zwei Stunden wird ein neues Leben beginnen.
    Das dritte Leben – für uns alle.
    In zwei Stunden werde ich dreiundzwanzig Jahre überspringen müssen. Kann man das überhaupt?
    Grau versank der Tag hinter den Dächern der Häuser. Das Licht

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