Das dritte Leben
die deine Tochter Sabine ist. Nimm sie, und zieh des Weges.
Ein Wort nur.
»Ich möchte – wenn ich könnte …« Sabine wurde rot. »Ja«, sagte sie mit Herausforderung in der Stimme, »wenn ich könnte – ich würde in den Westen gehen! Sofort!«
»Auch – auch ohne uns?« fragte Wolzcek behutsam.
Sabine begann zu lachen. Sie warf das verschnürte Bücherbündel auf den Tisch, fiel Wolzcek um den Hals. »Aber niemals, Papa, niemals ohne dich und Mama!«
Wolzcek blickte Richard über Sabines Schulter hinweg an. Jäh schimmerten die Augen des alten Mannes feucht. Er tätschelte etwas hilflos Sabines Schulter.
Richard ließ langsam die Tischkante los, an der er sich festgehalten hatte.
Er stand. Er konnte stehen, ohne daß seine Knie nachgaben.
»Es ist schon spät geworden«, sagte er zu Wolzcek. »Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Ich muß jetzt gehen.«
Wolzcek sah ihn an; Unverständnis und Argwohn waren in seinem Blick. Doch dann verstand er. Er machte sich aus den Armen Sabines frei. »Geh, mein Kind. Ich habe mit dem Herrn noch etwas zu besprechen.«
Sabine lief zur Tür. »Sehe ich Sie noch einmal?« fragte sie zu Richard gewandt.
»Ich glaube kaum«, erwiderte er mühsam. Irgend etwas wollte seine Stimme zerdrücken. Wollte seine Stimmbänder zerreißen.
»Schade, ich hätte so gern etwas über den Westen von Ihnen gehört. Wie es dort wirklich ist. Aber Papa wird mir ja davon erzählen, nicht wahr?«
»Das werde ich, mein Kind.«
Sie stand in der Tür, groß, schlank, schön.
Ich werde sie nie mehr wiedersehen. Mein Kind. Meine Tochter.
Richards Lippen öffneten sich. Er trat einen Schritt vor, doch die Tür schloß sich. Sie hörten Sabines schnelle Schritte auf dem Flur, ihr Lachen und Nadjas gutmütige Stimme.
»Ich danke Ihnen«, sagte Wolzcek, seine Stimme bebte vor Bewegung. »Sie weiß nichts von dem, was damals war. Sie weiß nur, daß sie unsere Tochter ist.«
Richard nahm seinen Mantel auf, seinen Hut.
Wolzcek ging zum Schreibtisch, schloß die Lade auf. Er kramte eine Weile herum. Dann brachte er ein unscheinbares Stück Karton zum Vorschein.
»Hier«, sagte er, »nehmen Sie das mit. Zur Erinnerung. Es gehört Ihnen. Es gehört Ihnen und Ihrer Frau.«
Richard nahm das ovale Stückchen Karton. In verwaschener, kaum noch leserlicher Schrift stand darauf:
»Kind Sabine Gertner. Geboren am 21. März 1944 in Mewes. Bestimmungsort Köln.«
Er hielt Sabines Erkennungsmarke in der Hand!
Er mußte die Zähne zusammenbeißen. Sagen konnte er nichts.
Wolzcek legte ihm die Hand auf die Schulter. »Der Krieg«, sagte er heiser, »der Krieg …« Und dann: »Wie soll ich Ihnen danken? Wie kann ich Ihnen dafür danken, daß Sie Sanja nicht mitnehmen?«
Richard schüttelte nur stumm den Kopf. Er ging zur Tür. Wolzcek begleitete ihn nach draußen.
Schweigend gaben sich die beiden Männer die Hand. Dann drehte sich Richard um und ging davon.
Nacht umfing ihn. Schnee.
Über dem Hafen kreischten die Möwen. Das Wasser gluckste und schmatzte und gurgelte. Eisiger Wind kam aus dem Norden.
Richard schlug den Kragen seines Mantels hoch. Kind Sabine Gertner. Bestimmungsort Köln.
Er merkte, daß er weinte. Wild und hemmungslos weinte.
Er flüchtete in die Dunkelheit einer Gasse. Irrte durch die Stadt, von Gedanken und Erinnerungen gepeinigt.
Um drei Uhr früh fand er ins Hotel zurück. Er ließ sich eine Flasche Wodka aufs Zimmer bringen. Er knipste das Licht aus, lag in der Dunkelheit auf dem Bett und trank.
Der Krieg, hatte Wolzcek gesagt.
Der Krieg. So viele Jahre danach zahlen wir noch immer die Rechnung. Und jeder auf seine eigene Art.
Sehe ich Sie noch einmal? hatte sie gefragt.
Ich glaube kaum, hatte er geantwortet.
Ja, ich glaube kaum, kleine Sabine, Kleines, mein einziges Kind.
Sie erwarteten ihn vor der Tür des Hauses. Hilde, Sabine – und Oma Günders aus Köln.
»Da kommt ja der Herumstromer«, rief die Oma resolut.
»Was wollt ihr denn hier draußen«, antwortete er, »ihr holt euch ja den Tod!« Mit schnellen Schritten ging er auf sie zu. Der Lichtschein des Hauses fiel auf die Silhouetten der drei Frauen.
Plötzlich löste Sabine sich von der Gruppe und kam ihm entgegengelaufen. »Vati!« Sie hing an seinem Hals.
Wortlos drückte er sie an sich, preßte sein Gesicht in ihr dunkles duftendes Haar.
»Vati!« Es war ein Schrei zwischen Jauchzen und Schluchzen.
»Sabine!«
Sie umschlang seine Taille, zog ihn zum Haus.
Hilde stand da, mit
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