Das dritte Ohr
ihn an und steckte das Band in die Tasche.
„Ich habe hier noch eines in der Originalpackung“, bot Nemeth mir an. „Es ist überhaupt noch nicht benutzt worden. Auf dem anderen sind vielleicht Geräuschspuren …“
Ich lächelte ihn an und ging hinaus.
9
Astrid lebte seit ein paar Jahren in Hamburg und kannte eine Wahrsagerin – eine Frau, die, wie sie mir erzählte, ihrer Freundin Helga die Zukunft mit unheimlicher Genauigkeit vorausgesagt hatte. Sie hatte ihr sogar den Bruch mit ihrem jetzigen Freund prophezeit.
Ich maß dem nicht viel Bedeutung bei. Wahrsagerei und Horoskope haben eines gemeinsam: sie umfassen einen großen Bereich. Wenn irgend etwas nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit eintritt, wird es der unheimlichen Gabe der Wahrsagerin zugeschrieben; wenn sich hingegen eine Prophezeiung nicht als wahr erweist, wird sie leicht vergessen.
Aber mich interessierte Astrids Behauptung, daß diese Sibylle sich selbst in echte Trance zu versetzen vermochte. Vielleicht ein Medium, das ich suchte.
Astrid schlug vor, die Straßenbahn zu benutzen, da sie es nicht wagte, ihren kostbaren Volvo abends in der Nähe der Reeperbahn, des berühmten Vergnügungsviertels, zu parken, das sich mit den dunklen Gassen von Marseille an Verderbtheit messen konnte.
Sie ließ ihren Wagen in der Nähe meines Hauses auf der Elbchaussee stehen, und wir stiegen in die rüttelnde und holpernde Straßenbahn. Astrid hatte sich plötzlich in eine elegante Dame verwandelt – sie legte den Slang ab, der ihre Rede gewürzt hatte, auch ihr Flirten –, so daß ich mich ihren Launen anpassen mußte.
Die Trambahn fuhr an Patrizierhäusern vorüber die Elbchaussee entlang. Von Zeit zu Zeit öffnete sich die Aussicht auf die breite Elbe mit ihren Hochseeschiffen, ihren Werften und kleinen, dunklen Uferparks.
„Bauer und Wilhelm haben Sie umzingelt“, sagte Astrid verschwörerisch und grinste. „Sie wundern sich immer noch, warum Sie sich Hamburg für Ihre Forschungen ausgesucht haben. Für sie ist Amerika das wissenschaftliche Märchenland. Jeder einzelne von ihnen brennt darauf, eine Einladung zu bekommen, an einer Ihrer Universitäten Vorlesungen zu halten. Passen Sie nur auf – sie werden Sie mit ihren wissenschaftlichen Abhandlungen überschütten und Sie bitten, ihnen eine Einladung zu besorgen.“
„Viele Biochemiker machen mehr oder weniger die gleichen Forschungen über den RAB-Schlaf wie ich. Die Forschungen sind miteinander verknüpft.“
„Sie haben eine besondere Methode, an diese Probleme heranzugehen, dessen bin ich sicher“, sagte sie mit mädchenhafter Bewunderung, die vorübergehend ihre Damenhaftigkeit verdrängte.
„Sind Sie dessen sicher?“ fragte ich wachsam, denn sie schien Wilhelms und Nemeths Ausfragerei fortzusetzen.
„Absolut. Ich weiß allerdings nicht, was Sie vorhaben und warum Sie eine Wahrsagerin kennenlernen wollen. Madame Dolores liest aus der Hand. Glauben Sie wirklich, daß die Handlinien Aufschluß über Vergangenheit oder Zukunft geben?“
Ich wußte, daß ich ihr mehr verraten mußte; ich konnte nicht in völliger Isolierung weiterarbeiten. Ich benötigte schließlich die Unterstützung von Bauers Team; meine Arbeit war zu zeitraubend für einen einzigen Mann.
„Vielleicht liest sie gar nicht aus der Hand“, sagte ich. „Vielleicht ist das nur ein Trick, um gewisse mediale Fähigkeiten, die sie besitzt, einsetzen zu können.“
Sie zog die Mundwinkel mit amüsierter Skepsis herunter. „Wir können schließlich nicht leugnen, daß es mediale Fähigkeiten gibt“, fuhr ich fort, um sie von meinem eigentlichen Ziel abzubringen. „Sie sind zu lange in der Geschichte der Menschheit verankert, als daß man sie durch empirische Methoden einfach abtun könnte.“
„Dr. Bolt, der Mann mit dem Computergehirn – ein Okkultist!“ rief sie und drückte flüchtig ihren Arm an meinen.
„Ich habe niemals etwas völlig abgelehnt.“
„Und Sie haben auch niemals etwas völlig angenommen“, sagte sie weise.
„Natürlich nicht. Jedes Wissen ist nur ein Annäherndes.“
„Wollen Sie einen Artikel über die Wahrsagerin schreiben?“
„Nein, denn ich glaube nicht, daß sich die Zukunft voraussagen läßt.“
„Was wollen Sie denn dann?“ fragte sie. „Warum Madame Dolores?“
„Ich versuche festzustellen, ob die Trance mit dem RAB-Schlaf verwandt ist und was während der Trance mit der Enzymaktivität geschieht.“ Ich gab aufs Geratewohl eine Antwort. „Die Trance
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