Das dritte Ohr
daß es eine telepathische Verbindung zwischen Menschen gleicher Geistes- oder Gemütsverfassung geben kann, zwischen Mutter und Kind, zwischen Liebenden oder glücklich verheirateten Ehepaaren, zwischen Menschen in Todesangst, die Botschaften in die Welt zu senden vermögen, wenn wir diesen Geschichten Glauben schenken können. Ich möchte nun feststellen, wie eine solche Übertragung zustande kommt.“
„Die Russen scheinen dieses Gebiet allen Ernstes zu erforschen. Warum tun wir mediale Fähigkeiten als unwissenschaftlich ab?“ fragte sie.
„Die Russen haben diese Experimente eingestellt. Sie befürchteten, daß die Telepathie nicht nur zur Übertragung von Wissen, sondern auch zur Charakterbildung benützt werden können; die Telepathie könnte bei der Umerziehung asozialer Elemente angewandt werden. Doch da tauchte die Frage auf, wo ein asozialer Charakter anfängt. Könnten nicht auch regierungsfeindliche Ideen in den Verstand der Leute eingepflanzt werden? Das Empfängergehirn könnte stärker sein als das Sendergehirn und den Vorgang umkehren. Die Russen bekamen es deshalb mit der Angst zu tun und stellten die Forschungen ein, ja setzten sie sogar auf die schwarze Liste. Die Angst lähmt oft ihre Forschungen.“
„Mich lähmt auch die Angst“, sagte sie und hob ihr Gesicht. „Hinter was sind Sie wirklich her?“
„Hinter einer Wahrsagerin“, sagte ich.
Wir waren vor einem Nachtklub stehengeblieben, an dessen Wand lebensgroße Bilder von Mädchen hingen, deren vulgäre Nacktheit Perlenschnüre bedeckten.
„Da drin ist Madame Dolores“, sagte Astrid.
Wir traten in einen großen runden Saal voller Tische und mit einer kleinen Bühne, auf der eine unappetitliche Blondine einen peinlichen Strip zeigte. Ein Kellner führte uns zu einem Tisch hinter der Bühne, auf der inzwischen drei Mädchen akrobatisch herum turnten. Wir konnten nur ihre Rücken sehen und ihr Fußgetrappel und Keuchen hören. Hinter dem Vorhang, nicht mehr im Blickfeld des Publikums, stand eine Stripperin wie eine Leiche im grellen Neonlicht. Ihre gepuderte Haut war faltig, und sie hatte kleine endomorphe Fettpolster an den Hüften und unter den Achseln. Kellner eilten mit Tabletts an uns vorbei, die Ruhelosigkeit der Straße erfüllte auch diese freudlose Atmosphäre.
Ich erblickte eine kleine, dicke Zigeunerin, die an einem der Tische die Hand einer jungen Frau musterte, die ihr mit der intensiven Konzentration eines nur an sich selbst interessierten Menschen zuhörte. Ihr Begleiter beobachtete die Handleserin mit sarkastischem Grinsen. Plötzlich hielt die junge Frau ihre Hand entsetzt vor den Mund, und der Mann runzelte ungläubig und verblüfft die Stirn.
„Da haben Sie Ihre Pythia“, sagte Astrid.
Das Gesicht der Zigeunerin war glatt, aber ihre runzligen Hände verrieten ihr Alter. Sie trug ein Kopftuch, und ihr Hals wurde von Glasperlenketten verdeckt.
Der Kellner beugte sich über uns.
„Bitte die Getränkekarte“, sagte Astrid und er verschwand. „Ich weiß genau, was ich bestellen will“, sagte sie, „aber ich kontrolliere immer die Preise. Man weiß sonst nie, was sie einem berechnen.“
„Wirklich? Wieviel kostet denn ein Drink?“ Ihre Besorgnis hinsichtlich meiner Brieftasche amüsierte mich.
„Da würden Sie Augen machen“, sagte sie. „Sie haben verschiedene Preise: einen für Reisegesellschaften, einen für die Einheimischen und einen für die Trottel.“
„Zu denen ich gehöre?“
Sie grinste und kräuselte die Nase. „Jemand muß auf Sie aufpassen.“
Der Kellner erschien, und Astrid bestellte zwei Sektcocktails, ohne mich zu fragen.
„Das ist am billigsten“, erklärte sie, nachdem der Kellner gegangen war. „Der Sekt hier ist ganz anständig, wir brauchen nicht noch etwas zu bestellen. Ich habe dem Kellner auch gesagt, er solle Madame Dolores zu uns schicken.“
Sie bewies eine zielstrebige Tüchtigkeit, die sie bestimmt auch Heinemann gegenüber gezeigt hatte. Ich beobachtete, wie der Kellner mit der Zigeunerin redete, die einen scharfen Blick in unsere Richtung warf, dann zu uns schlurfte und ihre Körperfülle auf einen Stuhl sinken ließ. Sie musterte uns kurz – ein Mann mittleren Alters und ein Mädchen, halb so alt wie er. Ich war überzeugt davon, daß sie einen Eröffnungszug für eine solche Kombination hatte.
„Soll ich Ihnen die Hand lesen?“ fragte sie.
„Wieviel kostet das?“ erkundigte Astrid sich auf ihre sachliche Art.
„Eine Hand drei Mark, beide Hände
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