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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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vollbracht, von dem man kaum zu träumen wagte, – die künstliche Erzeugung übersinnlicher Wahrnehmung! Übersinnlich nur insofern, als sie eine im Unterbewußtsein vergrabene Fähigkeit ins Bewußtsein hob. Und nachdem ich nun ein scheinbar unerreichbares Ziel erreicht hatte, verspürte ich eine Leere, eine geistige Erschöpfung, die mich betäubte. An meinem Schreibtisch sitzend, starrte ich benommen den Stapel Aufzeichnungen an, die Astrid und Magnussen zusammengetragen hatten. Ich weiß nicht, wie lange ich dort unbeweglich saß, während mein Verstand einer Isolierzelle glich, bis ich wieder zum Leben erwachte.
    Meine Ideen waren rein theoretisch gewesen und deshalb bisher vage und unverbindlich. Ich mußte sie jetzt in die Praxis umsetzen.
    Ich mußte lernen, 232 richtig anzuwenden und – unter anonymen Leuten – mein Versuchsgebiet schnell auszusuchen.
    Ich nahm ein Taxi zu dem Geschäftsviertel in der Hamburger Innenstadt.
    Unterwegs testete ich das 232, indem ich mich auf den Chauffeur konzentrierte. Er dachte an seine Tageseinnahmen, die bisher nicht besonders hoch gewesen waren und berechnete mechanisch die Marken und Pfennige, die er brauchte, um seiner Familie eine anständige Mahlzeit zum Abendbrot vorsetzen zu können. Er hatte zwei Kinder und eine asthmatische Frau. Ihm fehlten noch drei Mark, um ein Schaukelpferd für sein am nächsten Tag Geburtstag feierndes, kleinstes Kind kaufen zu können, aber ich war nicht in der Lage festzustellen, ob es sich bei seinem Kind um einen Jungen oder ein Mädchen handelte.
    Ich ließ ihn in der Mönckebergstraße mit ihren teuren Geschäften halten. Gab es einen besseren Ort, meinen Geist zu schulen, als eines der großen Warenhäuser mit seinem Menschengedränge?
    Der Taxifahrer verlangte fünf Mark zwanzig von mir. In einer plötzlichen Anwandlung von Großzügigkeit gab ich ihm einen Zehn-Mark-Schein.
    „Kaufen Sie Ihrem Kind ein Schaukelpferd“, sagte ich, und sein Gesicht erstarrte vor Erstaunen. Beschwingt ging ich davon. Das 232 wirkte.
    Als ich den Kaufhof betrat, hielt ich mir instinktiv die Ohren zu, um das „Stimmengewirr“ auszuschließen, aber es nützte natürlich nichts, denn jetzt hörte ich stumme Gedanken.
    Allmählich legte sich der Lärm, bis ich nur noch die Geräusche der Menge vernahm. Das 232 war verbraucht. Ich sah auf meine Uhr; eine einzige Inhalation hatte erst nach einer Stunde und dreiundzwanzig Minuten ihre Wirkung verloren. Jetzt konnte ich mein Quantum dosieren, auf längere oder kürzere Dauer, je nach der Wichtigkeit des Tests.
    Ich hielt den Zerstäuber dicht vor meine Nase und atmete einen winzigen Hauch ein. Sofort spürte ich eine Schärfung meiner Sinne und das Stimmengewirr setzte wieder ein. Ich beobachtete die drängelnden, stoßenden, hetzenden, wie Ameisen durcheinanderwimmelnden Menschen mit ihrem rätselhaften Gerede, ein ununterbrochener Strom von Körpern, in dem ich dahin trieb.
    Sie waren zu dichtgedrängt, als daß ich meine Sinneseindrücke hätte auseinanderhalten können. Ich trat auf die Straße.
    Meine Augen schienen mit meinem gesteigerten Gehör verbunden zu sein. Wenn ich eine Person aussonderte, wurden ihre Gedanken deutlich hörbar und erhoben sich über das Lärmlabyrinth. Indem ich mich auf einen Menschen konzentrierte, war ich imstande, seinen Gedanken zu folgen. Während ich gleichmäßig weiterging, vierzig Schritte in der Minute, in einem bewußten Rhythmus, um mich zu beruhigen, gelang es mir, immer nur einem einzigen Gedanken zu folgen und wie ein Yogi alle anderen Eindrücke auszuschalten.
    Sätze bestürmten mich; sie ergaben keinen Sinn, da ich keine Zeit hatte, sie einer Analyse zu unterziehen. Sie blieben auch nicht in mir haften, sondern sprudelten hoch und schmolzen dahin, trafen mich mit jäher Wucht, um dann in meiner Erinnerung zu verblassen. Die meisten Gedanken waren sinnleer, non sequiturs , zusammenhanglos, einzelne Glieder aus Ketten geistiger Überlegungen. Die Menschen äußerten andere Worte als die ihrem Gehirn entströmenden. Der Mensch denkt nicht rational, sondern watet durch ein Gebrodel durcheinanderflutender Gedankenfetzen, die wie Wellen gegen die Innenseite seines Schädels schlagen.
    Eine Frau mit einem Zwergpudel auf dem Arm ging an mir vorüber. Der Hund drehte sich nach mir um und kläffte hysterisch. Hatte er den „Geruch“ des 232 gewittert? Die Frau warf mir einen vernichtenden Blick zu und bedachte mich im Geiste mit einem Schimpfwort, als hätte ich

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