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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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Tätigkeiten. Ich blieb stehen, öffnete aus einem jähen Impuls heraus die Tür und trat ein. Die Köpfe wandten sich mir zu, die trüben Augen betrachteten mich, und ein Mädchen mit langen Zöpfen und Lederhose lächelte mich lasziv an.
    Mein Verstand wurde auf einmal von Geräuschen überflutet, als wäre ich versehentlich in ein großes Hallenbad gekommen, das von kreischenden Stimmen widerhallte. Die polyphonischen Klänge trafen mich physisch wie ein Schlag; sich überschneidende Sätze, kakophonisches Stimmengewirr, Gedankenfetzen stürzten wie eine Lawine von Lärm und Tönen auf mich ein.
    Ich starrte erschrocken die kleine Gruppe der Frauen an, die zurückstarrten. Niemand sprach, aber die Stimmen hämmerten weiter auf mein Gehirn ein.
    Ich konnte ein paar Fäden unterscheiden, die in den Schlamm des Lärms zurücksanken, während einzelne Sätze gebildet wurden, nur um von dem allgemeinen Geplapper wieder verschluckt zu werden.
    „Amerikaner … der Amerikaner …“ Es löste sich auf. „Er ist ein neuer Arzt … wetten, daß er Lieblingspatienten hat …“ Dann folgten Ordinärheiten, grobes Abtaxieren meiner Männlichkeit – Gedanken von nach Sex hungernden Frauen. Ich hörte plötzlich einen Schrei, der aus dem geschlossenen Mund des blassen jungen Mädchens zu kommen schien.
    Abgebrochene Sätze hoben und senkten sich, in Kadenzen, vibrierend, polyphonisch – ein Wirrwarr von Gedanken entstand und erstarb, um wieder in anderem Zusammenhang zum Leben zu erwachen.
    Das Mädchen mit der Lederhose sprang plötzlich auf und bewegte die Lippen. Während sie hörbar sprach, klangen die anderen Stimmen in Tonlage und Dissonanz unwirklich in meinem Kopf.
    „Herr Doktor, wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Wir könnten Ihnen viele Gefälligkeiten erweisen!“
    Sie hob ihre Brüste mit beiden Händen, und die Harpyien übertönten mit kreischendem Gelächter das Getöse in meinem Gehirn.
    Ich verließ hastig den Raum und schlug die Tür hinter mir zu. Ich rannte durch den Korridor und stürzte in mein Büro. Es war leer, ruhig und diese infernalischen, körperlosen Stimmen waren verstummt. Ich konnte immer noch das Bellen der Hunde hinter geschlossenen Türen hören.
    Ich sank auf einen Stuhl.
    Nachdem ich nun die Aufgabe bewältigt hatte, zu der ich Jahre benötigt hatte, war ich außerstande, mit den Konsequenzen fertig zu werden. Es ist ja oft so, daß einen die Vorfreude auf etwas emotionell so erschöpft, daß man dann, wenn das betreffende Ereignis tatsächlich eintritt, keine Kraft mehr für irgendwelche Gefühle aufbringt.
    Mir war nur bewußt, daß ich eine biochemische Aufgabe zum Abschluß gebracht hatte, deren Auswirkungen unergründlich, unabsehbar waren.
    Was war geschehen? Ich hatte Gedanken „gehört“, die Erkenntnisse dieser Frauen, einen Schwall zusammenhangloser Denkbilder, die mein Hörvermögen überstiegen. Die gesprochenen Worte waren klar gewesen, aber die stummen versanken in einem Sumpf der Unverständlichkeit, halbverdauter Denkbilder, Phantasien und Wachträume.
    Der anfängliche Schock legte sich, und ich empfand tiefe Verzweiflung. Ich war überzeugt davon, daß die Endergebnisse meiner Bemühungen ein reiner Fehlschlag waren. 232 war unbrauchbar, weil es sich nicht vom Verstand kontrollieren ließ!
    Aber warum war es Madame Dolores gelungen? Sie vermochte einem Gedankengang zu folgen und andere zu ignorieren; ich hatte sie freilich nur in Gegenwart von zwei Personen beobachtet! Astrid und mir oder Nemeth in der Isolierzelle. Vielleicht wäre sie nicht mit der Vielzahl der Schwingungen fertig geworden, die diese Überrumpelung meiner Sinne verursacht hatte.
    Mein Verstand wanderte durch ein Labyrinth gespeicherter Beobachtungen, sortierte die brauchbaren Eindrücke aus und überging diejenigen, die vielleicht den schmalen Weg zu gültigen Folgerungen versperrten. Wie Wellen eines Spektrums fließen unzählige Bewußtseinsströme durch den Verstand, die Unmengen von Eindrücken heraufbeschwören und sie alle gleichzeitig orchestrieren. Durch selektives Abstimmen gelingt es uns, nur jeweils eine dieser ‚Wellen’ bewußt zu verfolgen, zu einem konkreten Gedanken zu formen, der alle anderen unerwünschten Gedankenfragmente unterdrückt.
    Ich hatte unsortierte Wellen unterbewußter Gedankenfetzen gehört. Wenn möglich mußte ich meinen Verstand so schulen, daß er immer jeweils nur einem einzigen Gedanken folgen, ihn deuten und auswerten konnte.
    Ich hatte etwas

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