Das dritte Ohr
mit einem großen Schreibtisch und dem Zeichentisch eines Architekten. Das Fenster bot Aussicht auf einen Hafen, der so schwach skizziert war, daß ich nicht feststellen konnte, ob ich ihn je gesehen hatte. Das Bild glich einer Projektion auf Rauch, und als ich mich konzentrierte, um es klarer wahrzunehmen, verblaßte es, entschwand vor meinem neuerworbenen Sinn und wurde – unglaublicherweise – von einem aus meiner eigenen Erinnerung ersetzt! Ich sah mich selbst im Ottendorf er Laboratorium, über chromographische Platten gebeugt; von hinten sah ich jenem Unbekannten ähnlich, den Astrids Gedächtnis heraufbeschworen hatte. Auch Magnussen war da. Ich drehte mich um, und mein Profil verwandelte sich flüchtig, um dann wieder mein eigenes zu werden. Einen Sekundenbruchteil lang hatte ich das Gesicht jenes anderen gehabt. Es konnte sich nicht um meine Erinnerung handeln, sondern nur um Astrids, denn kein Mensch kann sich daran erinnern, je seinen eigenen Rücken gesehen zu haben.
Ich betrachtete mich in dem antiken Spiegel, dessen handgeblasenes Glas mein Gesicht verzerrte. War ich – wie Madame Dolores – in Trance? Astrids Verstand hatte mit der Kraft eines von einer fixen Idee besessenen Menschen diese Bilder heraufbeschworen. Sie enthüllten mir nichts außer der Tatsache, daß Astrid von Erinnerungen beherrscht wurde, die ihren Wirklichkeitssinn überfluteten.
Gedanken besitzen verschiedene Grade der Intensität, deren Stärke ich noch nicht erforscht hatte. Manche Gedanken streifen nur die Oberfläche des Zerebrums, andere graben sich tief ein; wieder andere lenken das Gehirn monoman, wie die von Paranoikern oder werden durch eine traumatische Erfahrung in seine Zellen eingeätzt – eine Erfahrung, die Astrid gemacht haben mußte, als ihr Geliebter starb.
Wußte sie etwas von dem gestohlenen Tonband? Ich mußte sie danach fragen. Selbst wenn sie abstritt, etwas von dessen Inhalt zu wissen, würde ihr Unterbewußtsein sie verraten. Das dritte Ohr machte die Lüge unmöglich!
Ich wählte ihre Nummer. Es klingelte lange, dann meldete sich ihre Freundin. Sie hatte Astrid eben vorfahren sehen und bat mich, am Apparat zu bleiben.
Kurz danach meldete sich Astrid mit zögernder Stimme, als sei mein Anruf das Letzte, was sie erwartet habe. Ich hatte sie vorher erst zweimal angerufen, um ihr zu sagen, sie brauche mich nicht abzuholen und zur Klinik zu bringen; nach dem ersten Abend gesellschaftlicher Vertrautheit war unser Verhältnis das zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewesen.
„Haben Sie heute abend Zeit?“ fragte ich.
„Natürlich.“ Ihre Stimme zitterte.
„Hätten Sie Lust, mit mir essen zu gehen?“
„Und ob!“ sagte sie und jene weibliche Koketterie, die ich kannte, stahl sich schüchtern in ihre Stimme. „Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich in den letzten Tagen so auf meine Diät geachtet habe.“
„Ich hole Sie ab“, sagte ich.
Wieder dieses Zaudern. Ich konnte ihre Gedanken nicht durch das Telefon lesen und wünschte, sie wäre bei mir. „Ich würde Sie gern heraufbitten, aber Helga und ich haben nur ein Zimmer – und darin herrscht fürchterliche Unordnung. Schlagen Sie lieber einen anderen Treffpunkt vor.“
„Zum Bäcker?“ fragte ich, um sie an unseren ersten Abend zu erinnern.
„Sind Sie schon auf dem Fernsehturm gewesen? Natürlich nicht, Sie leben ja praktisch in einem Reagenzglas. Auf dem Fernsehturm gibt es ein Restaurant, das sich pro Stunde einmal um seine eigene Achse dreht. Wollen wir auf zwei Umdrehungen hingehen?“
„Na schön, also der Fernsehturm.“
„Man kann von dort aus ganz Hamburg überblicken – den Fluß, den Hafen, sogar das alte Gefängnis“, plauderte sie weiter. „Man kann Schleswig-Holstein und Niedersachsen sehen oder an der Bar hocken und die Flaschen betrachten.“ Astrid hatte die Persönlichkeit wiedergewonnen, die ich zuerst kennengelernt hatte.
„Also gut. Ein Taxi bringt mich schon hin.“
„Geben Sie mir bitte eine Stunde Zeit. Lassen Sie sich von dem Chauffeur zu ‚Planten un Blomen’ fahren. Das heißt auf hochdeutsch ‚Pflanzen und Blumen’. Es handelt sich um einen Park. Der Fernsehturm steht an seinem Ende. – Und ziehen Sie bitte Ihren graugestreiften Anzug an – er steht Ihnen so gut.“
Der Mann in dem vagen Vorstellungsbild hatte einen graugestreiften Anzug getragen. Wir legten auf.
Ich zog den Zerstäuber aus meiner Tasche. Auch wenn jemand das Haus durchsuchen sollte, er würde nichts finden. Ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher