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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Curt Siodmak
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boshafte Bemerkung machte, nur um mich an ihrer Verblüffung zu ergötzen.
    Ich wechselte den Platz und setzte mich scheinbar zufällig neben Löfflers Mann. Der Polizist in ihm reagierte wachsam, während er immer noch so tat, als läse er Zeitung und sei an seiner Umgebung nicht interessiert. Löffler hatte ihm nicht gesagt, warum er mich beschatten sollte. Er bemühte sich, dahinter zu kommen, ob ich bewaffnet war und welches Verbrechen ich begangen hatte. Er selbst war unbewaffnet, und das wurmte ihn.
    „Ist das die neueste Ausgabe?“ fragte ich und zeigte auf die Zeitung. Die Augen des Mannes musterten rasch mein Gesicht und dann meine Jacke, die er nach der Ausbeulung eines Revolvers absuchte.
    „Nein, die von gestern abend“, sagte er. Er rollte die Zeitung fest zusammen, um sie mir ins Gesicht zu schlagen, falls ich ihn angreifen sollte. Seine Vorsichtsmaßnahmen waren übertrieben, aber es gehörte nun einmal zu seiner Arbeit, stets auf der Hut zu sein.
    „Gestatten Sie, daß ich einen Blick hineinwerfe?“ fragte ich. Er lächelte gezwungen und reichte mir die Zeitung. Dann fiel ihm ein, daß ich nichts gegen ihn unternehmen konnte, solange ich sie festhielt.
    „Sie können sie behalten“, sagte er. Da meine unmittelbare Nähe ihn verunsicherte, stand er auf, schaute aus dem Fenster und summte vor sich hin. Er mimte den Mann, der nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause fährt.
    Ich faltete die Zeitung zusammen und erhob mich. Er stand drei Meter von mir entfernt, kehrte mir den Rücken zu und beobachtete mein Spiegelbild in der Scheibe. Unsere Blicke begegneten sich nicht, nicht einmal für einen Sekundenbruchteil. Er beobachtete meine Beine, nach dem ersten Gesetz eines Detektivs, daß man nie dem Verdächtigen in die Augen schauen darf, wenn man seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken will.
    Leute standen auf und stellten sich zwischen uns, einen Augenblick lang verlor ich seinen Gedankengang. Aus welcher Entfernung vermochte ich die Gedanken anderer zu lesen? Beeinträchtigte oder schwächte vielleicht die Gedankenausstrahlung von Leuten zwischen mir und meinem Objekt die Macht des 232?
    232 war ein noch unerforschtes wissenschaftliches Gebiet; bisher hatte ich lediglich einen kleinen Teil seiner Möglichkeiten erkannt.
    Als der Zug an der Station Landungsbrücken hielt, nickte ich Löfflers Mann zu und legte die Zeitung auf die Bank. Er zwang sich zu einem Grinsen. Es gefiel ihm nicht, daß ich – der Verdächtige – ihm Aufmerksamkeit schenkte; es war seine Aufgabe anonym zu bleiben. Mich reizte der Gedanke, eine Bemerkung zu machen, aus der er ersehen konnte, daß ich wußte, was er dachte.
    Ich verließ die U-Bahn-Station. Wie bei einer Wachablösung fiel Löfflers Mann zurück, während ein anderer aus einem wartenden Auto stieg und die Jagd aufnahm. Löfflers Abteilung arbeitete reibungslos, ihre Anwesenheit gab mir ein Gefühl des Beschütztwerdens. Vor wem? Ich sollte es bald erfahren.
    Ich betrat Heinemanns Haus, schloß die Tür hinter mir ab und mein drittes Ohr sagte mir, daß Astrid vor kurzer Zeit hier gewesen war.
    Indem ich mich wie ein Versuchskaninchen beobachtete, war ich imstande, ihre Gedanken zurückzuspulen. Offenbar war es nicht nötig, einer Person gegenüberzustehen, wenn gewisse Gedanken sich aus einem Abstand auffangen ließen. Vielleicht bestimmte die Intensität des Denkprozesses die Stärke der Signale, die noch eine Weile in der Luft hingen. Astrids Verstand hatte ein festes Muster, das sich um einen Mann drehte, den sie geliebt hatte. Ihr Verstand war erfüllt von einem übermächtigen Zurückerinnern, das Echos ihres Denkprozesses zurückließ. Das war zumindest meine Theorie; später erwies sie sich als richtig.
    Wie eine Geistererscheinung sah ich den Mann, den sie sich während ihres Besuches in Heinemanns Haus vor Augen gerufen hatte. Er war groß, und sein Gesicht zeigte trotz der Sonnenbräune die hagere Eingefallenheit eines Sterbenden. Er war blond, nordisch – und in seinen hohlen blauen Augen lag der abwesende, ruhige Blick eines Menschen, der weiß, daß seine Tage gezählt sind, der aber eine Philosophie gefunden hat, um mit diesem Wissen fertig zu werden. Da ich meinen Schlußfolgerungen mißtraute, fragte ich mich, wieviel ich mir eingebildet hatte und inwieweit meine Eindrücke dem Einfluß des 232 zuzuschreiben waren.
    Ich konnte den Mann nicht deutlich sehen, seine Konturen verflossen mit der Umgebung. Da war ein verschwommener Raum

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