Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
in letzter Zeit starrte mich ständig eine völlig neue Haven von meiner Schranktür aus an.
»Whoa!«, sagte ich zu mir selbst. »Das ist aber ganz schön rot.«
Ich besaß selbst gar nichts Rotes, wenn ich jetzt so darüber nachdachte, aber ich verstand plötzlich, warum sich Frauen rote Sachen kauften. In dieser Farbe konnte man unmöglich übersehen werden. Sie drängte sich einem frech und gnadenlos auf, wurde immer intensiver, je länger man sie ansah. Und ich war auch nicht das schlechteste Modell dafür. Der Reißverschluss ließ sich problemlos hochziehen, und der Stoff schmiegte sich sogar ein wenig so an meinen Körper an, wie das wohl vorgesehen war. Mit dem einen Träger und den Rüschen hatte das Ganze etwas Göttinnenhaftes. Nicht schlecht, dachte ich, wirklich nicht schlecht.
Allerdings hatte ich ohne meinen Stylisten keinen Schimmer, was Make-up und Frisur betraf – Dante arbeitete mal wieder, wie üblich. Ich löste den Knoten, fuhr mit den Händen durch mein offenes Haar und versuchte, es ein wenig aufzulockern. Das schien zu funktionieren, ich bekam diesen unbändigen, verwuschelten Look, den ich bei einigen der Syndikat-Girls gesehen hatte. Was das Schminken anging, musste ich mit dem arbeiten, was ich hatte: mit meinem braunen Eyeliner, den ich gelegentlich auftrug, und rosafarbenem Lipgloss.
Um zehn vor sieben war ich fertig und griff nach Aurelias Handtasche – zum Glück hatte ich ihr die Sachen vom Vortag noch nicht zurückgegeben. Die würde ich ihr dann morgen vorbeibringen. Ich setzte mich aufs Bett und wartete. So langsam verkrampfte sich in meiner Magengrube alles. Das Buch, dieses Buch, lag plötzlich neben mir, es sah mich ganz unschuldig vom Kopfkissen aus an. Ich starrte zurück: Nein! Da wollte ich jetzt nicht reinschauen. Ich wollte auf keinen Fall darüber nachdenken, was mit diesen Fotos passiert war, und ich musste auch nicht an mein nächtliches Trainingsprogramm in den Tunneln erinnert werden, das ich später noch absolvieren würde. Verdirb dir damit nicht den Abend , redete ich mir ein. Lass dir nicht die gute Laune nehmen.
Es hätte schon geholfen, wenn es nicht so warm gewesen wäre. 18.55 Uhr. Noch fünf Minuten. Ich packte mein Schminkzeug ein und räumte das Chaos auf, das ich beim Auspacken des Kleides hinterlassen hatte. Als ich danach den Stuhl wieder vor den Schrank schob, lief es mir kalt über den Rücken. Zum Schluss legte ich noch das Buch wieder in den Nachttisch. Lucians Blume hielt weiter durch und sah sogar noch besser aus als gestern. Ich wechselte ihr Wasser. Da auch Dantes Pflanze blühte und gedieh, folgte ich seinem Rat und ließ sie in Ruhe. Eine Minute nach sieben. Ich setzte mich wieder aufs Bett und begann, an Haaren, Fingernägeln und Kleid herumzufummeln. Irgendwie musste ich einen kühlen Kopf bekommen, und zwar in jeder Hinsicht. Zwei Minuten nach sieben.
Länger hielt ich es nicht aus, also griff ich nach der Tasche, stand vom Bett auf und huschte zur Tür hinaus.
Ich hatte gerade den Eingang der Galerie erreicht, als ich Lucian – im perfekt geschnittenen schwarzen Anzug – auf dem Weg zu mir entdeckte. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht wie die Sonne, die am Horizont aufsteigt.
Durch die Lobby gingen wir aufeinander zu und hatten plötzlich für nichts und niemand mehr Augen, nur noch für uns. Ich fürchtete sogar, es nicht einmal mehr bis zu ihm zu schaffen. Ich musste mich auf jeden Schritt konzentrieren, um mit meinen weichen Knien nicht dahinzusinken wie die Mädchen in den Romanen aus dem 18. Jahrhundert, die ich so gern las. Die schoben das alle aufs enge Korsett – was war meine Ausrede?
Den Eingangsbereich fand ich auf einmal riesig, und wir schienen ihn in Zeitlupe zu durchqueren, bis wir uns endlich auf halbem Wege trafen. Mir kam es wie die exakte geometrische Mitte der Lobby vor – Lance hätte mir das sicher sagen können, danach würde ich ihn mal fragen.
»Hi.« Er sprach als Erstes und verschlang mich mit Blicken, während alles andere um uns herum verschwamm und verblasste.
»Hi.«
»Ich wäre auch runtergekommen, um dich abzuholen. Du bist einfach zu pünktlich.«
»Ja, Pünktlichkeit ist einer meiner größten Fehler.«
»Da kannst du ja von Glück reden.«
Ich besann mich auf meine guten Manieren. »Das ist wunderschön, vielen Dank dafür.« Ich strich mir über den Rock des Kleides und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten.
»Keine Ursache.« Das war alles, kein Kompliment. Dabei dachte ich
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