Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
Stadt unter uns. Er tat, wie ihm geheißen, und wir sahen still zu, wie Chicago vorbeiglitt, entdeckten so viele Orte, an denen wir heute schon gewesen waren. Das, dies alles, war viel besser als Schule. Und dabei ging ich doch gerne zur Highschool.
»Also, wie kann es denn sein, dass du in der Gegend aufgewachsen bist und noch nie hier oben warst?«
»Ich weiß auch nicht. Wir waren schon am Pier, sind dann aber zum Beispiel ins Kindermuseum gegangen.« Er zeigte es mir in der Tiefe, ein ausladendes Gebäude neben dem Kai.
»Wir waren immer so viele, dass es ewig gedauert hätte, uns alle anzustellen.«
»So viele? Du hast also eine große Familie?«
»Sozusagen. Weißt du, ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen, drüben an der Lake Street.«
»Wow.«
»Ja, aber die Leiterin der Einrichtung hatte mich gern – ich glaube, ich hab einfach nie geweint, selbst als Baby nicht. Ich war immer eher ruhig und so. Also haben ihr Mann und sie mich selbst adoptiert.«
»Wow. Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Ja, ich meine, woher denn auch?«
»Hast du je nach deinen Eltern gesucht?« Ich fragte mich, ob er wohl mehr über seine Erzeuger wusste als ich über meine.
»Daran gedacht habe ich schon, es aber noch nie probiert. Für mich sind die Leute, die mich aufgezogen haben, meine richtigen Eltern. Und wo sollte ich da überhaupt anfangen? Ich wurde bei einer Feuerwache gefunden, da haben sie mich vermutlich ausgesetzt.«
»Echt?«
Er nickte.
»Ich habe schon mal gehört, dass Leute so was machen, aber ausgerechnet bei der Feuerwehr – ich meine, die Sirenen und das Blaulicht und all die Kerle – woher sollen die denn wissen, was man mit einem Baby anfängt?«
Er zuckte mit den Achseln. »Die sind aber echt nett. Als Kind habe ich da ab und zu mal vorbeigeschaut. Mit 16 bin ich jetzt alt genug, um mich als Freiwilliger zu melden, vielleicht mache ich das ja. Nach dem Praktikum.«
»Das hört sich ganz schön gefährlich an.«
»Ich weiß. Stimmt. Eigentlich war ich über das Stipendium ganz froh, jetzt habe ich noch ein bisschen Bedenkzeit.«
»Würden deine Eltern das denn erlauben?«
»Begeistert wären sie wahrscheinlich nicht, aber sie mögen die Truppe. Und wenn es mir wichtig ist, stimmen sie sicher zu. Wir werden sehen, denke ich.« Jetzt hingen so viele Fragen und Sorgen in der Luft, dass ich die Unterhaltung lieber in eine andere Richtung lenkte. »Na ja, da würdest du bestimmt kochen lernen. Und vielleicht bringen sie dann einen von diesen Kalendern raus, und du könntest dafür posieren«, schlug ich vor. »Wahrscheinlich sind das alles nur Klischees, aber das sind wenigstens die guten.«
»Die Kalenderfotos knipst du dann aber bitte!«
»Ich stehe zur Verfügung!« Wir lachten beide.
Jetzt war unsere Gondel ganz oben angekommen, wir verfielen unbeabsichtigt in Schweigen und gaben uns ganz der Aussicht hin: Vor uns erstreckten sich der endlose See und die zerklüftete Silhouette der Stadt. Langsam setzte die Dämmerung ein und färbte den wolkenschweren Himmel von Weiß zu Grau. Ich hatte das Gefühl, dass wir einfach nur schwebten, uns nichts mehr zurückhielt. Wenn mir beinahe ein bisschen schwindelig wurde, dann lag das nicht an der Höhe, sondern vielmehr an dem Gedanken, dass wir hier oben unerreichbar waren.
Die zweite Hälfte der Fahrt, den Abstieg, verbrachten wir schweigend und starrten einfach nur aus dem Fenster. Aber das war nicht die übliche Stille zwischen uns. Von Zeit zu Zeit wanderte mein Blick zu Lance hinüber, um zu schauen, ob er sich immer noch mit der schönen Aussicht zufriedengab, und er blickte tatsächlich hinaus, wie erwartet. Wenn ich mich dann aber abwandte, konnte ich spüren, dass er zu mir rüberlugte. So ging das eine Weile hin und her. Woher stammte plötzlich dieses seltsame Gefühl? Sonst war es mir doch immer egal gewesen, ob wir miteinander sprachen oder nicht. Warum wurde das jetzt auf einmal kompliziert? Was war hier los?
Endlich erreichten wir unten die Rampe und stiegen immer noch schweigend die Metalltreppe hinunter.
Als wir zurückkamen, war das Hotel zum Leben erwacht. Im Parlor drängten sich Anzugtypen mit ihren Drinks bei lauter Jazzmusik um die Theke, während sich im Capone Pärchen und Vierergruppen zum frühen Abendessen einfanden. In der Lobby war so einiges los: An der Rezeption checkten neue Gäste ein und fuhren dann mit ihrem Gepäck zu ihren Zimmern hoch, andere traten auf dem Weg zu ihren Abendunternehmungen aus dem Aufzug,
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